Die vergessene Frau
gesagt.«
Theresa spitzte die Ohren. »Was war im Wald?«, mischte sie sich ein.
Noreen Murray verdrehte heimlich die Augen. »Das Mädchen meint, es hätte gestern jemanden im Wald gesehen.« Sie senkte die Stimme und tippte sich vielsagend gegen die Schläfe. »Die Fantasie spielt ihr manchmal Streiche, wissen Sie?«
Jetzt stampfte Alysha mit dem Fuß auf. »Gar nicht! Ich habe es wirklich gesehen! Ehrlich! Es heißt Cara, und wir wollen uns nachher treffen. Wenn du mir nicht glaubst, kannst du heute Nachmittag mitkommen und das Mädchen selbst sehen.«
Leise pfeifend erledigte Cara ihre Hausarbeit. Sie freute sich auf ihr Treffen mit Alysha am Nachmittag. Während der vergangenen Monate auf der Farm hatte sie vor allem unter der Langeweile und Einsamkeit gelitten. Sie konnte es hinnehmen, dass ihre Großmutter so launisch und schroff war, aber mit niemandem reden zu können war schlimm. Abgesehen von Theresas ältester Tochter, die sie nicht sehen durfte, besuchte nie jemand ihre Großmutter; die nächsten Nachbarn wohnten zehn Minuten entfernt. Inzwischen hatte Cara längst alle Bücher ausgelesen, die ihre Mutter mitgenommen hatte, und sie langweilte sich schrecklich, wenn sie die Hausarbeit erledigt und gelernt hatte. Ihr einziger Zeitvertreib bestand darin, durch die Natur zu streifen. Dass sie gestern auf Alysha getroffen war, war ein richtiger Glücksfall. Jetzt hatte sie vielleicht endlich jemanden zum Spielen und konnte sich kaum stillhalten, so aufgeregt war sie. Zum ersten Mal, seit sie hier angekommen war, hatte sie etwas, worauf sie sich freuen konnte.
Schon mittags hatte sie alle Arbeiten erledigt. Sie wollte gerade das Mittagessen vorbereiten, als die Haustür mit einem Knall aufflog und ihr verriet, dass Theresa wieder zurück war. Sie war früher dran als üblich, und das allein reichte, um Cara nervös zu machen. Im nächsten Moment bestätigte sich ihr Verdacht, denn ihre Großmutter kam wütend in die Küche gewatschelt. Sie schnaufte schwer; ihr weißes Haar war windzerzaust, ihre Nasenflügel blähten sich, und in ihren Augen loderte der Zorn. Instinktiv wich Cara zurück.
Theresa durchmaß mit zwei langen Schritten die Küche und packte Cara am Arm. Sie war zwar alt und gebrechlich, aber immer noch stärker als die Siebenjährige.
»Was habe ich dir gesagt? Wie lautet die eine und einzige Regel, gegen die du keinesfalls verstoßen darfst?«
Stumm und eingeschüchtert starrte Cara sie an. Sie hatte keine Ahnung, was in ihre Großmutter gefahren war.
Theresa rüttelte sie rücksichtslos. »Du darfst mit niemandem sprechen. Das weißt du doch, oder?«
Cara nickte.
»Wieso höre ich dann, dass du dich für heute Nachmittag im Wald mit Alysha Murray verabredet hast?«
Plötzlich begriff Cara, was passiert war. Alysha war ganz und gar nicht so verschwiegen, wie sie behauptet hatte.
»Ich habe ihr gesagt, sie darf niemandem was sagen«, meinte sie kleinlaut. Es war ihre einzige Entschuldigung, und sie wusste selbst, dass sie nicht besonders gut war.
Sobald sie ihren Fehler zugegeben hatte, ließ Theresa sie los. »Dummes Ding«, brummelte sie. »Begreifst du nicht, dass das nur zu deinem Besten ist? Solange du bei mir wohnst, darf niemand von dir erfahren. Hast du das verstanden?«
Cara nickte, weil sie wusste, dass das von ihr erwartet wurde, aber in Wahrheit begriff sie gar nichts. Ihr kam es so vor, als wäre ihre Großmutter einfach nur gemein und würde ihr keinen Spaß gönnen.
Theresa seufzte tief. »Das war’s dann. Du darfst heute nicht mehr aus dem Haus.«
Cara stöhnte protestierend auf. Die Regentage, an denen sie nicht ins Freie durfte, schienen sich endlos hinzuziehen.
Aber ihre Großmutter kannte kein Mitgefühl. »Du brauchst dich gar nicht zu beschweren, Mädchen. Bis du mir bewiesen hast, dass ich dir trauen kann, wirst du tun, was ich sage.«
Das Kind starrte seine Großmutter an und spürte, wie es ihr vor Verbitterung und Wut die Sprache verschlug. Das war so ungerecht. Cara hasste die alte Hexe. Gott sei Dank würde ihre Mutter sie bald von hier wegholen. Danach würde sie ihre Großmutter nie wiedersehen.
Den Rest des Tages wechselten Theresa und Cara kein Wort. Beide bewegten sich in der Hütte, als wären sie allein, und ignorierten bemüht die jeweils andere. Cara sah den Zeitpunkt, an dem sie sich mit Alysha treffen wollte, kommen und verstreichen und merkte, wie sie immer verzagter wurde.
Nachdem sie schweigend zu Abend gegessen hatten, ließ sich
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