Die vergessene Frau
Theresa in der Küche nieder, um Radio zu hören. Cara beschloss, nach oben zu gehen und zu lesen. Als sie durch die Wohnstube wanderte und überlegte, wo sie ihr Buch hingelegt hatte, stieß sie zufällig mit dem Fuß gegen die auf dem Boden liegende Handtasche ihrer Großmutter. Sie bückte sich, um die Sachen wieder einzuräumen, und entdeckte dabei einen Umschlag. Sie erkannte augenblicklich, dass der Brief von ihrer Mutter stammte, die immer auf violettem Briefpapier schrieb.
Sie wohnten so abgelegen, dass der Briefträger nicht zu ihnen kam, darum holte Theresa die Post regelmäßig ab, wenn sie in den Ort ging. Normalerweise gab sie Cara den Brief, sobald sie nach Hause kam. Dann lasen sie ihn gemeinsam, wobei Theresa ihr half, wenn sie ein Wort nicht verstand, und anschließend schrieb Cara ihrer Mutter einen Antwortbrief, wobei die Großmutter ihr ebenfalls half. Aber offenbar hatte Theresa beschlossen, den Brief zur Strafe vor ihr geheim zu halten, nachdem sie von ihrer Verabredung mit Alysha erfahren hatte. Das war gemein, fand Cara. Sie hatte sowieso kaum etwas, auf das sie sich freuen konnte – und jetzt bekam sie nicht einmal mehr ihren heiß ersehnten Brief!
Sie bückte sich, um den Brief aufzuheben. Doch als sie sich wieder aufrichtete, stand Theresa in der Tür.
»Was tust du da?« Sie stapfte herbei und riss ihrer Enkelin den Brief aus der Hand.
Während der acht Wochen, die Cara inzwischen hier war, hatte sie sich redlich bemüht, ihrer Großmutter nicht zu widersprechen. Aber nach den schrecklichen Enttäuschungen, die sie heute erlebt hatte, konnte sie ihren Zorn nicht mehr zügeln. »Das ist meiner! Gib den her!«
Ihr Ausbruch machte wenig Eindruck auf Theresa. »Da täuschst du dich. Der ist nicht für dich. Deine Mutter hat diesen Brief an mich geschrieben.«
»Was?« Cara sah sie fassungslos an. »Sie hat mir nicht geschrieben?«
Das traf sie noch schlimmer. Sie lebte für die Briefe ihrer Mutter: Es war ihr einziges Fenster zur Außenwelt. Normalerweise waren die Umschläge an Theresa adressiert, die Briefe darin waren allerdings für sie bestimmt. Wieso war das diesmal anders?
Theresa zögerte kurz. »Doch, sie hat auch einen Brief an dich hineingelegt«, sagte sie bedächtig. »Aber sie wollte, dass ich erst mit dir rede.«
»Warum?« Cara hörte das Beben in ihrer Stimme. Sie bekam Angst. Etwas war passiert.
Theresas Blick wurde weich. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich etwas ab, das Cara noch nie an ihr gesehen hatte: Mitgefühl. »Weil ich dir erst erklären soll, dass sie nicht so schnell kommen kann, wie sie gehofft hat.«
»Nein!« Das Wort zwängte sich als erstickter Aufschrei durch Caras Kehle.
»Es hat sich eine Gelegenheit für sie aufgetan, noch mehr zu arbeiten, musst du wissen«, erklärte Theresa ihr möglichst nachsichtig. »Und sie muss schrecklich sparen. Du sollst wissen, dass sie das alles nur für dich tut.«
Doch Cara hörte ihr gar nicht mehr zu. Das Geld interessierte sie nicht – sie wollte nur endlich ihre Mutter wiedersehen.
»Wie lange dauert es noch, bis sie kommt?«
Ihre Großmutter biss sich auf die Lippe. Cara ahnte sofort, dass das nichts Gutes verhieß. »Drei Monate. Vielleicht vier.«
Cara schüttelte schon den Kopf. »Nein! Ich will nicht mehr hierbleiben. Ich kann nicht! Sie hat mir versprochen, dass sie nicht lang …«
Schlagartig verhärtete sich Theresas Miene. »Was hast du denn anderes von deiner Mam erwartet? Sie ist und bleibt ein selbstsüchtiges Weib, und je eher du das begreifst, desto besser.«
»Nein, das ist sie nicht! Sie ist eine ganz wunderbare Mutter, und ich hoffe, dass sie mich endlich holen kommt, damit ich dich nie wiedersehen muss!«
Damit rannte Cara aus dem Zimmer.
Gleich darauf hörte Theresa die Tür zu Caras Kammer zuknallen. Dann setzte das Heulen ein. Theresa hörte es, und ihr wurde schwer ums Herz. Sie hätte ihre Enkelin so gern getröstet, doch sie wusste nicht wie – so etwas war einfach nicht ihre Art. Sie hatte ein schweres Leben voller Sorgen geführt und so gut wie nie Gelegenheit gehabt, ihre Gefühle zu zeigen.
Aber auch wenn sie so unversöhnlich wirkte, sie hatte das Mädchen ins Herz geschlossen. Cara war klug und lerneifrig und schien sich wirklich für die verschiedenen Gemüse und Kräuter zu interessieren, die Theresa anbaute. Cara beschwerte sich nie, wenn sie im Haus helfen musste, und sie war im Gegensatz zu ihrer Mutter kein bisschen selbstsüchtig oder eitel. Von ihren anderen
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