Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
Alter veränderungsfähig und damit aufnahmebereit bleibt.
Früher habe sie nur unter Zwang und Druck lernen können, sagt sie, das sei heute völlig anders; in dieser Hinsicht sei sie regelrecht befreit: »Ich habe mich unendlich gequält in meinem Leben, aber jetzt geht es mir so gut wie nie – viel, viel besser als in meiner Kindheit und als junger Mensch.«
Heute ist ihr klar, dass sie von Anfang an depressiv war, und zwar mindestens bis in ihre Dreißigerjahre hinein. Therapieerfahrung ist reichlich vorhanden. Aber um Kriegstraumata ging es in den Behandlungen nie. Ihre heutigen psychosomatischen Beschwerden findet sie vergleichsweise erträglich – auch dass sie, wenn sie an wunde Punkte stößt, die ihr schon in der Kindheit zu schaffen machten, von der Sehnsucht überflutet wird, sich eine Woche wegzuschließen und nur zu heulen. Aber dem gibt sie nicht nach. Dagegen stemmt sie sich mit »eiserner Disziplin«.
Warum, möchte ich wissen, warum macht sie keine gezielte Traumatherapie? Bevor sie antwortet, schüttelt sie langsam den Kopf. »Darüber habe ich auch schon eine ganze Weile nachgedacht. Aber letztlich sage ich mir: Jetzt kommt es auch nicht mehr drauf an. Die paar Jahre kriege ich noch hin. Und ich führe ja heute ein vergleichsweise friedliches Leben.«
Außerdem stecken in ihr noch immer die alten Gedanken: Nimm dich nicht so wichtig. Das steht dir nicht zu. Was würden die Verwandten und Bekannten sagen . . .
ZWEITES KAPITEL
Was Kinder gebraucht hätten ...
Ein behutsamer alter Mann
Was brauchen Kinder, um sich von schweren seelischen Verletzungen zu erholen? Die Antwort ist nicht schwer zu finden. Sie brauchen vor allem einfühlsame und geduldige Erwachsene. Aber wo gab es sie in Kriegszeiten und in den Elendsjahren danach? Wer hatte noch die Aufmerksamkeit, die Nerven und vor allem die Zeit, um ein verstörtes Kind in den Schlaf zu streicheln? Wer nahm ihm die Angst vor bösen Träumen? Wer verstand die Wut von kleinen Mädchen und Jungen, weil ihre Welt entzweigegangen war, und reagierte mit Liebe statt mit Schlägen? Wer vermochte es, mit einem verstummten Kind zu schweigen und ihm dabei ganz nah zu sein? Wer verzichtete auf jede Eile, damit eine kleine Hand sich in einer großen Hand geborgen fühlen konnte? Wer redete mit ruhiger Stimme, und wer war ein guter Zuhörer . . . ?
Das hohle Fenster in der vereinsamten Mauer gähnte blaurot voll früher Abendsonne. Staubgewölke flimmerten zwischen den steilgereckten Schornsteinresten. Die Schuttwüste döste. Er hatte die Augen zu. Mit einmal wurde es noch dunkler. Er merkte, daß jemand gekommen war, und nun vor ihm stand, dunkel leise. Er riskierte ein kleines Geblinzel an den Hosenbeinen hoch und erkannte einen älteren Mann.
Du schläfst hier wohl, was? fragte der Mann.
So beginnt die bekannte Kurzgeschichte von Wolfgang Borchert »Nachts schlafen die Ratten doch«. Sie gehört zu den Raritäten in der deutschen Kriegsliteratur, weil sie nicht einen Soldaten in den Mittelpunkt stellt, sondern einen neunjährigen Jungen, der tagelang allein auf einem Trümmergrundstück Wache hält, und einenfremden Mann, der das Kind ganz behutsam ins Leben zurückführt.
Wenn du mich nicht verrätst, sagte Jürgen da schnell, es ist wegen der Ratten.
Die krummen Beine kamen einen Schritt zurück: Wegen der Ratten?
Ja, die essen doch von den Toten. Von Menschen. Da leben sie doch von.
Wer sagt das?
Unser Lehrer.
Und du paßt nun auf die Ratten auf? fragte der Mann.
Auf die doch nicht! Und dann sagte er ganz leise: Mein Bruder, der liegt nämlich da unten. Da. Jürgen zeigte mit dem Stock auf die zusammengesackten Mauern. Unser Haus kriegte eine Bombe ab. Mit einmal war das Licht weg im Keller. Und er auch. Wir haben noch gerufen. Er war viel kleiner als ich. Erst vier. Er muß ja hier noch sein. Er ist noch viel kleiner als ich.
Der Mann sah von oben auf das Haargestrüpp. Aber dann sagte er plötzlich: Ja, hat euer Lehrer euch denn nicht gesagt, daß die Ratten nachts schlafen?
Nein, flüsterte Jürgen und sah mit einmal ganz müde aus, das hat er nicht gesagt.
Na, sagte der Mann, das ist aber ein Lehrer, wenn er das nicht mal weiß. Nachts schlafen die Ratten doch. Nachts kannst du ruhig nach Hause gehen. Nachts schlafen sie immer. Wenn es dunkel wird schon.
Jürgen machte mit seinem Stock kleine Kuhlen in den Schutt. Lauter kleine Betten sind das, dachte er, alles kleine Betten.
Ein seltsamer, ein anrührender Dialog. Knapp und
Weitere Kostenlose Bücher