Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
Grauen mit sich herumschleppten, sondern auch ältere, die bereits zwei Weltkriege hinter sich hatten. Später, als wir in der Schule Wolfgang Borchert und Heinrich Böll lasen, wuchs unsere Bereitschaft, sie zu verstehen.
Nicht wenige Heimkehrer haben Spuren in den Akten der psychiatrischen Kliniken hinterlassen. Hierbei muss man allerdings wissen: Bis in die Sechzigerjahre hinein war es für die Mediziner kaum denkbar, dass der Auslöser für eine psychische Erkrankung etwas anderes sein konnte als eine schwere organische – und damit messbare – Schädigung. Im Klartext hieß das: Ein gesunder Körper verursacht keine seelischen Störungen, da mussten dann andere Faktoren ausschlaggebend sein, vererbte Belastungen oder eine grundsätzlich labile Befindlichkeit.
Ein Patient mit tief greifenden psychischen Veränderungen, dessen Körper jedoch keine Spuren von Gewalt oder doch wenigstens von lang anhaltenden Strapazen aufwies, war also nicht etwa kriegstraumatisiert, wie es uns heute so selbstverständlich von den Lippen geht, sondern es wurde eine »anlagebedingte«Ursache für seine Störungen verantwortlich gemacht. Dies galt als gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis.
Vor allem für die Holocaustüberlebenden hatten derartige medizinische Glaubenssätze schlimme Folgen, denn damit argumentierten deutsche Gutachter vor Gericht, wenn es darum ging, Rentenansprüche und Wiedergutmachungsleistungen abzuwehren; eine gängige, erbarmungslose Praxis gegenüber Naziopfern, die 1963 den amerikanischen Psychoanalytiker deutscher Herkunft Kurt Eissler zu der seither viel zitierten Frage veranlasste: » Die Ermordung von wie vielen seiner Kinder muß ein Mensch symptomfrei ertragen können, um eine normale Konstitution zu haben?«
Nun stand das Schicksal der Heimkehrer den deutschen Medizinern, von denen viele gleichfalls Kriegsteilnehmer gewesen waren, vermutlich näher als das der KZ-Überlebenden. Auch war die Zahl der Patienten, die unter den Folgen von Krieg und Gefangenschaft litten, so groß, dass sie die Proportionen dessen sprengte, was man guten Gewissens als »anlagebedingt« in den Krankenakten festhalten konnte. Auch darf man davon ausgehen, dass sich bei den Ärzten eine gewisse Hemmung zeigte, allzu viele ehemalige Leidensgenossen als »labile Charaktere« abzustempeln.
Diagnose »Dystrophie«
Zur Lösung des Problems ließen sich die sichtlich überforderten deutschen Nachkriegspsychiater ein spezielles Krankheitsbild einfallen, die Dystrophie. Der Begriff umschrieb ein ganzes Feld an physischen Schädigungen und psychischen Beeinträchtigungen, die man auf eine vorangegangene schwere Mangelernährung zurückführte. Heute ist leicht zu erkennen, dass es sich dabei um eine aus der Not geborene Erfindung handelte. Dystrophie-Patienten litten unter anderem an Depressionen, Konzentrationsschwäche, an unkontrollierbaren Wutausbrüchen, oder siefühlten sich permanent verfolgt, von Feinden umzingelt. Man könnte auch sagen: Für viele Männer ging nach der Heimkehr der Krieg immer weiter . . .
Die Diagnose »Dystrophie« gab es, soweit ich weiß, für Kinder nicht. Aber grundsätzlich waren Behandlungsangebote für traumatisierte Menschen so selten, dass sie kaum irgendwo dokumentiert sind. Das galt für die Erwachsenen wie für die Kinder. In vielen Familien gab es nicht einmal Trost. Und doch entstanden zwischen Gewalt und Zerstörung vereinzelt kleine Rettungsinseln. Eine davon entdeckte der Schriftsteller Peter Weiss im Jahr 1947 und schrieb darüber in einer schwedischen Zeitung:
Bei der Kinderpsychologin im Norden Berlins. Sie ist eine von den wenigen, die im zähen Kampf aushalten. Sie hat eine einzigartige menschliche Kraft, sie strahlt Ruhe und Lebensfreude aus. Sie erkennt den menschlichen Wert in ihren blassen kleinen Freunden. Die kommen aus dem Kinderheim, wo sie für ihr Bettnässen, das seelische Gründe hat, und wegen der nervösen Gesichtszuckungen Schläge bekommen. Sie sind ohne Eltern, oder sie kommen aus Elternhäusern ohne Vater, der ist tot oder in Gefangenschaft, ganz allein kommen sie mit dem Flüchtlingszug und wissen nicht, wohin sie gehen sollen.
Da ist ein achtjähriges Mädchen. Nach einem Bombenangriff sah sie die verstümmelte Leiche ihrer jüngeren Schwester – eine Todeserfahrung, die sie nicht vergessen konnte. Später wurde ihr gesagt, die kleine Schwester sei nun ein Engel. Da sah sie dann immer diesen Engel, doch der hatte die aufgeplatzten, in Fäulnis
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