Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
überzeugend werden darin die ersten Schritte beschrieben, die nötig sind, damit ein traumatisiertes Kind wieder Vertrauen gewinnt.
Da sagte der Mann, und seine krummen Beine waren ganz unruhig dabei: Weißt du was? Jetzt füttere ich schnell meine Kaninchen, und wenn es dunkel wird, hole ich dich ab. Vielleicht kann ich eins mitbringen. Ein kleines, oder, was meinst du?
Jürgen machte lauter kleine Kuhlen in den Schutt. Lauter kleine Kaninchen. Weiße, graue, weißgraue. Ich weiß nicht, sagte er leise und sah auf die krummen Beine, wenn sie wirklich nachts schlafen.
Der Mann stieg über die Mauerreste weg auf die Straße. Natürlich, sagte er von da, euer Lehrer soll einpacken, wenn er das nicht mal weiß.
Da stand Jürgen auf und fragte: Wenn ich eins kriegen kann? Ein weißes vielleicht?
Ich will mal versuchen, rief der Mann schon im Weggehen, aber du mußt hier solange warten. Ich gehe dann mit dir nach Hause, weißt du. Ich muß deinem Vater doch sagen, wie so ein Kaninchenstall gebaut wird. Denn das müßt ihr ja wissen.
Was hat der ältere Mann dem Jungen angeboten, um ihn ins Leben zurückzulocken? Nicht viel. Nur eine kindgerechte Notlüge, ein kleines Kaninchen und die Aussicht, ihn nach Hause zu begleiten. Er hat das Kind nicht zurechtgewiesen und ihm nicht gedroht, und er hat erst recht nicht versucht, es fortzuzerren.
Kinder ohne Väter
Nachgeborene wie ich, nun fast sechzig Jahre durch Frieden verwöhnt, können sich kaum vorstellen, dass es einmal Kinder gab, die tagelang sich selbst überlassen blieben, ohne dass jemand nach ihnen suchte. Vielleicht hatte Jürgens Mutter nach einem verheerenden Luftangriff den zerstörten Stadtteil in Panik verlassen, hatte ihre zwei oder drei überlebenden Kinder hastig mitsich gezogen, hatte wie Tausende andere Obdachlose in einem der Notquartiere für Ausgebombte übernachtet, dann morgens am Bahnhof auf die Evakuierung gewartet und Jürgens Abwesenheit erst bemerkt, als der überfüllte Zug endlich losgefahren war.
Natürlich ging sie davon aus, dass er im Gedränge von seiner Familie getrennt worden war, und nicht, dass er sich heimlich fortgeschlichen hatte, um seinen kleinen toten Bruder vor den Ratten zu schützen. Was sollte die Mutter da tun? Sie saß im Waggon gefangen; konnte nur beten, dass sie irgendwann am Abend noch eine Verwandte oder Nachbarin ans Telefon bekam, in der Hoffnung, dass der verlorene Sohn bei ihr aufgetaucht war . . .
Dass der neunjährige Jürgen daheim einen Vater hatte, der ihm einen Kaninchenstall hätte bauen können, wird wohl eher unwahrscheinlich gewesen sein. Die meisten Kinder sahen ihre Soldatenväter nur auf Heimaturlaub. Über die Jahre sammelten sich in fast jeder Familie viele, viele Feldpostbriefe. Irgendwann kamen dann vielleicht nur noch seltene Lebenszeichen, aus Kriegsgefangenenlagern, oder der Kontakt riss völlig ab.
In den ersten Nachkriegsjahren erschienen endlich Zahlen zur Vaterlosigkeit, die für die Kriegskindergeneration so folgenreich war.
Eine Statistik von 1950 verzeichnet
3 Millionen Gefallene
2 Millionen Vermisste
2 Millionen Kriegsversehrte, davon über 500 000 Schweramputierte und
2 Millionen Heimkehrer aus der Kriegsgefangenschaft.
Den Männern, die etliche Jahre in russischen Lagern hinter sich hatten, war es dort ähnlich ergangen wie den Osteuropäern, die zuvor von den Deutschen als Arbeitssklaven gehalten worden waren. Viele Heimkehrer waren Familienväter, gezeichnet von Hunger, Krankheiten und häufig von sonderbaren Verhaltensweisen, die sie offenbar nicht steuern konnten.
Die Not und die Wut der Heimkehrer
In meiner Kindheit in den Fünfzigerjahren wären meinen Freundinnen und mir mühelos ein halbes Dutzend Männer, darunter auch Lehrer, eingefallen, die ihre Umgebung durch cholerische Ausbrüche tyrannisierten. Von den Erwachsenen wurden die Randalierer in Schutz genommen, ein Wohlwollen, das mir, einem Kind, das ständig erzogen wurde, merkwürdig vorkam, bis ich begriff, dass man Mitleid mit ihnen haben musste. Krieg, Gefangenschaft, Hirnverletzung, das waren die Stichworte. Ihre Toberei hatte man hinzunehmen wie ein Unwetter im Sommer – man musste eben gucken, dass man sich rechtzeitig in Sicherheit brachte. Und man musste dem Himmel dankbar sein, wenn so ein unberechenbares Exemplar nicht der eigene Vater war, der, wenn er »seine Anfälle« bekam, die eigenen Kinder wie ein Wahnsinniger anbrüllte oder gar zusammenschlug.
Es waren nicht nur junge Veteranen, die das
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