Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
übergehenden Hände ihrer Schwester. Für diese Vorstellungen wurde sie im Kinderheim bestraft, mit Hunger wollte man sie kurieren, eingesperrt wurde sie, bis die Ärztin sie schließlich fand, schon halb tot. Noch ist das Mädchen stumm, doch ihre Hände arbeiten schon mit Ton, sie formt eine kleine Puppe, ein Mädchen mit Flügeln, um die Arme wickelt sie einen Verband.Später spielt sie Beerdigung, und damit war schon ein Anfang gemacht für ihre Heilung.
Früher Ratgeber »Flüchtlingskinder«
Während ich in alten Zeitungsberichten nach Spuren suchte, um die Situation der Kinder besser erfassen zu können, stieß ich auf einen interessanten Hinweis. Der Ernst Klett Verlag in Stuttgart hatte 1952 eine Reihe von Erziehungsratgebern herausgebracht, vier Bändchen, das Stück für 1,90 DM, mit Titeln wie »Flüchtlingskinder in neuer Heimat«, »Laßt Kinder spielen«, »Fremdes Kind wird eigenes Kind«. Ein einfühlsamer Autor hatte darüber in der Zeitung »Neuer Vorwärts« geschrieben: »Es erscheint einem nach der Lektüre dieser Bändchen wie selbstverständlich, daß ein Flüchtlingskind, das vielleicht auf der Flucht ganz allein die Verantwortung für die kleineren Geschwister tragen mußte, sich in einer neuen Umgebung und in einem wieder geregelten Leben nicht mehr ›bevormunden‹ lassen will; daß heimat- und elternlose adoptierte Kinder durchaus nicht immer negativ erblich belastet sein müssen, daß sie in vorurteilsfreier, sorgsamer, liebevoller Umgebung genauso gedeihen.«
Das sind heute alles vertraute Vorstellungen. Aber damals spielte die schwarze Pädagogik eine große Rolle, wenn es darum ging, in Familien unbedingten Gehorsam durchzusetzen, worauf auch der Zeitungsbeitrag anspielt, wenn es heißt: »Als Grundtendenz aller vier Hefte: unverständliche kindliche Regungen, Hemmungen, unerwartete Reaktionen nicht mit Gewalt austreiben und brechen, sondern mit liebevollem Verständnis von Grund auf zu beseitigen versuchen.«
Es gab sie also auch damals, die aufmerksamen Pädagogen, und es gab die gütigen Eltern, die sich um ihre Kinder sorgten. Aber offenbar gab es davon nicht genug, weil die Erwachsenen mit ganz anderen Problemen belastet waren. Der Obertitel der Heftchen, »Bedrohte Jugend – Drohende Jugend«, macht deutlich,dass die Lage ernst zu nehmen war und dass man im Verlag die Zeit gekommen sah, die Eltern damit zu konfrontieren. Auch in Aufbau und Tonfall haben sich die neuen Ratgeber weit entfernt von den Erziehungsbüchern der Nazizeit mit ihren kinderfeindlichen Ratschlägen. Man verzichtete auf das in der Pädagogik typische Auflisten von Konfliktsituationen. Stattdessen werden die Eltern – denen viel Verständnis für ihr Überfordertsein entgegengebracht wird – zum genauen Hinschauen und Hinhören angeregt. Kein erhobener Zeigefinger, weder den Kindern noch den Erwachsenen gegenüber, sondern ein wohlwollender, ruhiger Ton. Die den Problemen zugrundeliegenden Geschehnisse werden weder dramatisiert noch verniedlicht.
Das schmale Heft über Flüchtlingskinder erzählt von den häufig ganz unscheinbaren Spuren der Gewalt. Und als Erstes wird den Älteren nahegelegt, sich auf die Perspektive der Kleinen einzulassen:
Auf dem Treck ist es zuerst ganz lustig, jedenfalls ungeheuer interessant. Die Kinder sehen sich mit großen Augen um. Als aber die Dämmerung kommt, wird es ihnen unheimlich! »Wir wollen ins Zimmer, Mutter, warum gehen wir nicht ins Zimmer?« Es wird kalt, es wird dunkel – die Kleinen zwischen zwei und sechs Jahren verstehen nicht, was dieses soll; sie sind verzweifelt wie aus dem Nest gefallene Vögel, überwältigt von dem Unbekannten.
Die Verfasserin Elisabeth Pfeil konzentriert sich nicht auf die extrem traumatisierenden Ereignisse, sondern macht die Eltern auf die Summe der kleineren Verluste und das ständige Verzichtenmüssen aufmerksam, etwas, das die Kinder auch hinterher, nach der Flucht, immer wieder verunsichert.
Das Kind beginnt zu vergleichen: »Alle Kinder haben Spielzeug. Bloß ich habe keine Spielsachen.« »Warum haben wir keine Äpfel? Die anderen Leute haben doch alle Äpfel.« Eswird Ostern und obwohl es ja »nichts gibt«, haben doch die Kinder der Hauswirte schöne bunte Eier gebracht bekommen. Ganz genau hat Hubert (viereinhalb Jahre) es gewußt: auch ihm wird der Osterhase etwas bringen; aber er brachte nichts. Als er weinte, schenkte ihm eine Frau ein großes Pappei. Er öffnete es voll Erwartung, es war leer. – Eine Welt hatte
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