Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
hörte die Kirchenglocken läuten, da war mir klar, sie hört jetzt die Totenglocken . . . Als ich das in der Gruppe erzählte, sind die Männer alle rausgelaufen, weil sie es nicht mit anhören konnten. Dabei war das für mich noch eine relativ harmlose Geschichte.«
Panik bei Mückenstichen
Flecktyphus wird durch Läuse übertragen. Ruth schüttelt sich, wenn sie nur daran denkt: »Damals hat man ständig geguckt, ob man jetzt Stiche hat, damals konnte das den Tod bedeuten.« DiePanik hat sie bis heute nicht verlassen; bei jeder Mückenplage ist sie wieder da, und nicht nur dann: »Das sehe ich als grundsätzliche Traumaschädigung, dass mich so schnell die Panik befällt.«
Dass ihr Leben so anstrengend war, lag einmal an den Umständen, aber auch in ihrer Person. »Ich musste mich offenbar überfordern. Da war so ein Drang in mir«, gibt sie zu, ungern, zumal sie glaubt, dies nun auch bei ihrer Tochter zu entdecken. »Also, ich war politisch engagiert, habe mich um türkische Familien gekümmert, freiwillige Sozialarbeit gemacht, Frauen im Frauenhaus untergebracht . . .« Und was man sonst noch so alles tut als lupenreine Helferin. Das konnte auf Dauer nicht gut gehen.
Schon früh sei bei ihr losgegangen, sagt sie, dass Menschen in ihr die vermeintlich Starke gesehen hätten: Ihr erster Freund habe seinen Bruder durch eine Panzerfaust verloren, der Vater sei nach Sibirien verschleppt worden, und so lastete die Fürsorge für seine Mutter und Schwester allein auf ihm – einem restlos überforderten Jugendlichen, wie Ruth heute weiß: »Also der hat immer nur seinen Kopf in meinen Schoß gelegt und geweint. Wir waren zwei verlorene Kinder, wir konnten uns gegenseitig nicht helfen.«
Als Ruth dreißig Jahre alt war, machte sie ihre erste Therapie. »Die Analytikerin wollte vom Krieg nichts hören«, erzählt sie, »also habe auch ich mich nicht weiter darum gekümmert.« Die Folgen von kollektiven Katastrophen hatten in der Psychoanalyse kein Gewicht. Dann doch lieber das kleine überschaubare Elternhaus. Und so ging es auch bei Ruth Münchow um die angespannte Beziehung zum Vater, die Schwierigkeiten mit der Mutter, die autoritäre Erziehung, die schwarze Pädagogik. Dass Kinder mit Strafen und Schlägen eingeschüchtert wurden, dass es vor allem darum ging, »ihren Willen zu brechen«, und dass dabei natürlich keine selbstbewussten Menschen herauskamen, ist nicht allein den Nazis anzulasten, wie sich am Beispiel von Ruths Eltern zeigt. Es gab die schwarze Pädagogik schon vorher. Sie wurde dann im Dritten Reich perfektioniert und sozusagen flächendeckend propagiert. Erziehung war keine Privatangelegenheitmehr, sondern Sache des ganzen Volkes, das im Gleichschritt ausgerichtet werden sollte. Über die Nazidressur verfasste Sigrid Chamberlain eine wissenschaftliche Arbeit mit dem Titel »Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind«. Interessant ist in unserem Zusammenhang ein Absatz über die Folgen für die damaligen Kinder: »Manche spüren ihren eigenen Körper kaum, zum Beispiel dann, wenn sie eigentlich Schmerzen haben müßten. Es kann ihnen passieren, daß sie krank sind, auch schwer krank, ohne überhaupt zu registrieren, daß sie Beschwerden haben. Und die haben sie tatsächlich, sie übergehen sie aber permanent.«
Chamberlains Sichtweise bietet eine Erklärung dafür, warum Ruth sich erst mit vierzig Jahren ihrer schweren gesundheitlichen Schäden bewusst wurde. Zunächst spürte sie nur, dass es ihr seelisch immer schlechter ging – zu einem Zeitpunkt, als sich ihr Leben eigentlich zum Guten hinneigte. Vorher hatte sie immer nur gearbeitet, regelrecht geschuftet, weil das Geld knapp war, von Selbstverwirklichung konnte keine Rede sein, bis sie sich zu einem letzten großen Kraftakt entschloss. Sie wollte Lehrerin werden. Für die alleinstehende Mutter begannen die Jahre der Dreifachbelastung, Beruf, Studium, zwei Kinder aufziehen. Aber schließlich wurde alles gut. Sie hatte das Examen geschafft, besaß zum ersten Mal in ihrem Leben eine schöne Wohnung, und sie konnte sich einen Urlaub leisten. Ruth Münchow, Anfang vierzig, geschieden, interessanter Beruf, endlich ohne Geldsorgen: eine angestellte Lehrerin, bei der absehbar war, wann sie Beamtin werden sollte.
Doch dann kamen die Schlafstörungen, die Alpträume und andere erschreckende Beschwerden. »Da saß ich dann manchmal nächteweise vor der Heizung und fror und wäre am liebsten in den Heizkörper reingekrochen«, erzählt
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