Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
auf den nächsten Angriff las ihr die Mutter aus Adalbert Stifters »Nachsommer« vor, eine unwirkliche Welt, voll zarter Liebessehnsucht. Später kam die Todesnachricht von ihrem Lieblingsvetter, aber zum Trauern blieb keine Zeit.
Eigentlich war sie dem Leben eines Kindes jäh entwachsen, aber noch immer konnten Geschichten vom Pferd Peter sie trösten. »Das Merkwürdige ist natürlich in diesem Krieg gewesen«, sagt Marianne, »dass man selber in Todesgefahr war und der Vater. Also, es wankte sozusagen die ganze Erdoberfläche. Es war nichts irgendwie sicher, und man war völlig darauf angewiesen, den Augenblick, den man erlebte, für wichtig zu halten.«
Zweimal wurde sie ausgebombt. Beim ersten Mal betraf es ihr Elternhaus, beim zweiten Mal brach das Haus der Großeltern über ihr zusammen. Die Menschen saßen im Keller gefangen, weil die Ausgänge verschüttet waren. Aber Marianne empfand keine Panik; sie wusste, ihr Vater, der gerade Heimaturlaub hatte, würde kommen und sie herausholen. Und so geschah es. »So ein Vater ist ja etwas sehr Beruhigendes«, erinnert sie sich.
Der Krieg ging weiter, aber auch das Leben ging weiter. Irgendwann waren ihre Besitztümer so geschrumpft, dass ein Fahrrad ausreichte, um alles zu transportieren. Da wurde beschlossen, das Ruhrgebiet zu verlassen. In einem Treck gingen Marianne und ihre Mutter zu Fuß bis zum Harz. Abwechselnd schoben sie das Fahrrad. Manchmal wurden sie von Tieffliegern gejagt wie die Hasen.
In Not geraten und gerettet werden, so sah das Muster ihrer Kriegserfahrungen aus. So erging es der Mutter und auch dem Vater. Die ganze Familie überlebte.
Enkelin Lena spürt sehr genau, dass eine extreme Lebenssituation bei ihrer Großmutter Kräfte freisetzte, die unter normalen Umständen undenkbar sind. »Es war faszinierend für mich, als ich zum ersten Mal davon hörte, weil ich mich im gleichen Alter befand«, sagt die Studentin. Ihr ist aber klar, dass ihre eigene Jugend und die ihrer Großmutter zwei völlig unvergleichbare Welten darstellen. »In der damaligen Zeit waren die Ziele so viel einfacher«, stellt sie fest, »denn es ging ums Überleben. Für etwas anderes war doch gar kein Platz.« Und zu ihrer Großmutter: »Zum Beispiel diese Gespräche über das Seelenleben – ich weiß gar nicht, ob das bei euch üblich war.«
»Nein, das gab es nicht«, sagt Marianne Kraft. »Ich glaube, da kriegt ihr heute viel mit, auch über die Erwachsenenwelt der Eltern. Unsere Generation hatte ja nicht einmal eine Pubertät. Man benahm sich eben launisch, das war’s. Man verliebte sich natürlich dauernd, aber man redete nicht darüber.«
Die Enkeltochter hat sich von den Kriegsgeschichten ihrer Großmütter nie belastet gefühlt. Gemessen an dem, was sie als Kinder erlebt hätten, sagt Lena, sähe sie »erstaunlich wenig Merkwürdiges in deren Verhalten«. Es sei alles so lange her, und es sei gut ausgegangen.
Kennt sie Familien, die mehr gelitten haben? Nein. Allerdings, gibt die Studentin zu, werde in ihrem Freundeskreis über dieses Thema auch nicht gesprochen.
Und immer wieder Überleben
Jedes Interview hat bei mir noch lange nachgeklungen. Ich erinnere mich, dass ich regelrecht beschwingt war, als ich Lena und ihre Großmutter verließ. Ja, so sollte es sein in den Familien, zwischen den Generationen. Kein Schweigen, keine Geheimnisse.Kein Sichabwenden, wenn die erwachsenen Kinder Fragen stellen. Kein Augenverdrehen, wenn Opa »mal wieder vom Krieg anfängt«. Die Vergangenheit weitergeben als einen Erfahrungsschatz, auch das Schwere, auch das, was man angeblich nicht beschreiben kann. Die eigenen Kinder nicht belügen, ihnen nichts verschweigen. Manchmal malte ich mir einfach schöne Aussichten: Vielleicht kriegen wir das ja doch nun hin, wir Deutschen, noch leben die Zeitzeugen . . .
Nachdem ich mich von Ruth Münchow in Hamburg verabschiedet hatte, kam mir auf der Rückfahrt der Gedanke, es könnte ihr erheblich besser gehen, wenn sie mehr Unterstützung in ihrem Freundeskreis hätte, wenn sie sich nicht so allein fühlen müsste mit ihrem Thema. Ein halbes Jahr später sagte sie zu mir am Telefon: »Es ist etwas in Bewegung geraten.« Die Bedingungen hätten sich inzwischen gebessert, es gebe mehr Austausch mit alten und neuen Bekannten.
Ihr größter Wunsch ist eine halbwegs stabile Gesundheit, nun, da sie bald siebzig Jahre alt wird. Bei unserem Interview hustet sie viel. Täte sie es nicht, würde ich vielleicht gar nicht merken, wie schlecht
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