Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
es ihr geht. Für Frauen wie Ruth ist Disziplin die zweite Haut. Andere in ihrem Zustand lägen im Bett; sie gibt ein Interview, in dem sie ihr ganzes Leben noch einmal aufrollt.
Schon wieder sei sie krank, sagt sie, während sie in ihrer Miniküche zwei Tassen holt, dabei komme sie gerade aus der Kur. Ständig diese Angst im Nacken, es werde ihr wieder so gehen wie im vergangenen Jahr. Sie nennt es einen Totalzusammenbruch: extreme Herzschwäche, gleichzeitig Nierenbecken-, Darm- und Lungenentzündung. Es habe auf Messers Schneide gestanden, sagt sie. Wieder einmal habe der Krieg sie eingeholt. Eine angeschlagene Gesundheit als Dauerzustand. Alles Folgen der Flucht. Warum sie dennoch so viel leisten konnte, mag ihr Geheimnis bleiben: dass sie das Geld heranschaffte für sich und die beiden Kinder, dass sie zeitweise ihre Eltern finanziell unterstützte, übrigens auch ihre zwei Ehemänner. Zu einer dritten Ehe kam es dann nicht mehr.
Das mag jetzt nach »armer, kleiner Frau« klingen, die sich stets für andere aufgeopfert hat. Aber dem entspricht Ruth Münchows Auftreten keineswegs. Alleinstehend ja, aber nicht zu bemitleiden, stattdessen eine selbstbewusste Frau, wenn auch nach gesellschaftlichen Maßstäben nicht sonderlich erfolgreich. Aber sie braucht keine Qualitätsstempel von außen. Mehr Geld wäre schön, aber Status ist ihr wirklich egal. Sie kann selbst anerkennen, was sie geleistet hat, ist stolz darauf. Unterm Strich sieht sie sich »mit sich selbst im Reinen«, sie hält ihr Leben für gelungen, obwohl sie im Alter krank und arm ist – eine Schreckensvorstellung für die meisten Menschen.
Auch Ruth hat Fotos für mich bereitgelegt, Sommerferien an der See, eine Allee in Danzig mit schönen Bürgerhäusern. »Ich brauchte mir als Kind keine andere Welt zu erträumen«, sagt sie, »weil ich wirklich rundum glücklich war.« Diese Sommer! Vier Monate lang bis 30 Grad, dann ein kurzer schöner Herbst, danach der Winter, bis 30 Grad minus. Schneeberge vorm Haus. »Man kam dann nicht durch die Tür, man musste durchs Fenster klettern.« Während sie sich Zeit nimmt, um den schönen Erinnerungen nachzuhängen, hustet sie nicht.
Ihr Vater war Geschäftsmann, ein Händler, der sich hochgearbeitet hatte und stolz war, dass er gebildete jüdische Freunde besaß. Natürlich drohten ihm die Nazis, er müsse den Kontakt abbrechen, sonst . . . Aber der Vater dachte, was kann mir schon Schlimmes passieren, und vorerst blieb es ja auch bei den Drohungen. Aber eines Tages hieß es, er müsse Danzig verlassen. Da war schon Krieg. Deutschland hatte Polen besetzt. Ruths Vater wurde zwar nicht eingezogen, weil er gehbehindert war, aber er wurde, wie seine Tochter sich ausdrückt, »nach Polen strafversetzt«. Die Familie zog in eine kleine Stadt östlich von Warschau.
Für Ruth begannen die bedrückenden Jahre. Dennoch, der Widerspruchsgeist ihres Vaters ging auf sie über. Dass sie den »Jungmädeln« beitrat, ließ sich nicht vermeiden, in die Hitler-Jugend mussten nun mal alle, aber als sie Propagandamaterial verteilen sollte, warf sie die Flugblätter in den Fluss. Auch spieltesie lieber mit den Polenmädchen; man durfte sich eben nicht erwischen lassen.
Dann im Januar 1945 die Flucht. Ruth, elf Jahre, ein Flüchtlingskind. Zwei Monate mit dem Pferdetreck. Ruth mit ihrer Mutter und Schwester allein. Der Vater irgendwo, auch vom Kindermädchen wurden sie getrennt. Die Kälte, der Schnee, die Angst, die Weite . . . Nach Danzig konnten sie nicht mehr zurück. Also noch weiter Richtung Westen. Der Vater tauchte wieder auf, auch das Kindermädchen. Im März waren sie in Sicherheit, vorläufig.
Mehr als fünfzig Jahre später wird der Schrecken der Vergangenheit wieder sichtbar: Ruth Münchow macht eine Kur in einer psychosomatischen Klinik. Dort nimmt sie an einer sogenannten Psychodramagruppe teil, in der belastende Erlebnisse einzelner Patienten szenisch dargestellt werden. Man kann sich leicht vorstellen, dass dabei heftigere Emotionen ausgelöst werden als in einer Gesprächsrunde, und das ist wohl auch therapeutisch erwünscht.
Ruth erinnert sich: »Bei mir ging es darum, dass unser Kindermädchen an Flecktyphus erkrankt war. Wir anderen hatten auch alle Flecktyphus gehabt, aber bei ihr hatte man den Eindruck, sie überlebt die Nacht nicht mehr. Da wurde ich beauftragt, sie mit dem Pferdewagen in die nächstgrößere Stadt zu bringen. Ich war ganz allein mit ihr, sie schrie immer hinten auf dem Wagen, sie
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