Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
verstorbenen Mutter. »Soweit ich mich erinnere, konnte sie nachweisen, dass ich nicht Umland, sondern Omland hieß«, erzählt er. Weitere Kontakte mit dieser Frau habe es dann nicht mehr gegeben.
Einmal erhielt der Bundeswehrsoldat überraschend Post aus Weimar. Dafür interessierte sich auch der Militärische Abschirmdienst (MAD). »Ich musste also zum Chef rein«, erinnert sich Horst, »und der hatte einen Brief in der Hand, und gleichzeitig waren da zwei Zivilisten, die sich als MAD zu erkennen gaben und fragten: Was ist in Weimar? Da sagte ich: Tut mir leid, ich habe keine Ahnung. Und dann hat mir der Chef den Brief vorgelesen: dass Ruth mich gesucht hat und dass ich ihr Bruder sei. Da hab ich gesagt, ich weiß von nichts. Ich kenne keine Geschwister. Ich bin allein groß geworden. Ich werde erst mal gar nicht drauf reagieren. Und damit war der MAD einverstanden.«
Der Brief kam von einer Ruth, geborene Omland. Auch von ihrer Seite hörte der Briefkontakt dann auf – übrigens aus ähnlichen Gründen. Ihr Mann arbeitete damals bei der Polizei; wegen der »Westkontakte« seiner Frau bekam er Schwierigkeiten mit dem Staatssicherheitsdienst. »Unterbinden Sie das!«, lautete die Anweisung.
Im Mai 2003 ergibt sich für mich die Gelegenheit, Ruth in Weimar zu treffen. Horst Omland ist eigens aus Hannover angereist.
Eine deutsch-deutsche Geschichte
Wir sitzen in einem Café und sprechen über eine deutsch-deutsche Familiengeschichte, wie nur der Kalte Krieg sie erfinden konnte. Ruths Kommentar: »Wir durften ja keinen Kontakt haben nach Westdeutschland. Na ja, dann haben wir das gelassen, bis dann die Wende kam.«
Um es gleich zu sagen: Ruth und Horst sehen sich sehr ähnlich. Einen Gentest lehnen sie ab, was Ruths Sohn, der seine Mutter zu unserem Treffen begleitete, mit den Worten absegnete: »Die beiden verstehen sich so gut, da sag ich immer: Es ist doch völlig egal, ob sie nun hundertprozentig Geschwister sind oder nicht.« Der Sohn sitzt Horst Omland am Tisch gegenüber, beide dieselbe Gewichtsklasse, und ich denke: Neffe und Onkel – wer sonst?
Ruth, eine zierliche Frau, stellt sich entschlossen unserem Gespräch, obwohl sie davon sehr aufgewühlt wird. »Die Mutti«, sagt sie, »hat mich mit fünf Jahren zu sich geholt, das muss 38 oder 39 gewesen sein, da war Horst noch ganz klein. Die Mutti konnte nur ein Kind aufnehmen. Da ist der Horst im Heim in Danzig geblieben.«
Ihre Pflegemutter habe nicht gewollt, dass es zu Kontakten mit der leiblichen Mutter kam, die offenbar immer wieder versuchte, ihre Tochter zu sehen. »Ein einziges Mal sind meine leibliche Mutter und ich Kaffee trinken gegangen«, erzählt Ruth. »Aber ich kann mich nur an das Ereignis erinnern, nicht an sie selbst.« Später habe sie gehört, dass die Mutter in Hamburg verstorben sei. Was in der Kindersuchmeldung von Horst stehe, das könne einfach nicht stimmen . . .
Wenn sie von ihrer Pflegemutter spricht, wird deutlich, wie liebevoll die Beziehung war. »Als die Rote Armee eingezogen war, mussten wir mit 21 Leuten in einem Raum wohnen. Da wollte meine Mutti nicht mehr leben. Wir stiegen auf das Krantor, was ja ein Wahrzeichen von Danzig war, und sie sagte: Komm, Mädchen, wir springen da runter, dann ist eben das Leben für uns zuEnde. Aber da habe ich gesagt: Ach Mutti, nein, machen wir weiter. Versuchen wir es doch noch einmal . . .«
1945 mussten sie Danzig verlassen. Zunächst verschlug es sie nach Norddeutschland. 1948 kamen sie nach Weimar. Hier lernte sie ihren Mann, den Polizisten, kennen.
Nach der Wende dann der zweite Kontakt zwischen Ruth und Horst. Beide hatten sich noch einmal an den Suchdienst gewandt. »Im Dezember 92, da sind Horst und seine Frau dann hergekommen. Sie standen in Weimar vor uns . . .«, erinnert sich Ruth, »und ich hab zu meiner Tochter gesagt: Das ist ja so, als ob wir uns schon jahrelang kennen würden. So eine Umarmung war das! Wir fühlten uns nicht wie Fremde. Und so ist die Verbindung eigentlich geblieben mit uns.«
Horst Omland steht der Beziehung nüchterner gegenüber. »Heute sehe ich ein, dass wir Geschwister sind, dass wir die gleiche Mutter hatten«, sagt er. Aber er kann die Gewissheit, die Ruth in sich trägt, selbst nicht empfinden. »Ich bin als Heimkind groß geworden. Ich kannte nicht Mama, Papa, Mutti, Vati, das kannte ich alles nicht. Das erlebte ich nur später mal im Fernsehen oder im Film. Und ich habe mich dementsprechend auch bei meinen Pflegeeltern nicht wie ein
Weitere Kostenlose Bücher