Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
liebendes Kind benommen, sondern erwachsen.« Seiner Schwester Ruth, die sehr gefühlvoll ist, treibt sein Bekenntnis Tränen in die Augen. Dankbar erinnert sie sich, wie viel besser sie es mit »Mutti und Vati« hatte. Horst räuspert sich und erzählt weiter: »Die Pflegeeltern waren vielleicht die dritte oder vierte Familie, die da drüber entschieden hat, ob sie mich aufnehmen oder nicht aufnehmen will. Und dadurch wird man natürlich ein bisschen abgestumpft. Richtiges Familienleben habe ich also nie kennengelernt. Und deshalb ist das Gefühl gegenüber meiner Schwester nicht familiär. Für mich sind das jetzt aber gegebene Tatsachen, dass wir Bruder und Schwester sind.«
Im Anschluss an unser Treffen, verrät er, werde er Ruth für eine Woche mit nach Hannover nehmen und sie danach, damit sie nicht allein unterwegs sein müsse, wieder zurück nach Weimar begleiten.
Mutter und Großmutter verhungerten
Eine weitere Kriegswaise traf ich in Hamburg. Christa Pfeiler-Iwohn wurde in Königsberg in Ostpreußen geboren. Der Bund der Vertriebenen hatte mir ihren Namen genannt. Früher arbeitete sie als Chefsekretärin, zuverlässig, umsichtig und vor allem selbstständig. Das permanente Beschäftigtsein ist ihr geblieben, so dass von einem behaglichen Ruhestand keine Rede sein kann. Sie ist der Motor einer Art Selbsthilfegruppe, in der sich Kriegswaisen aus Ostpreußen zusammengefunden haben. Die blonde Frau wirkt auf den ersten Blick kompetent und durchsetzungsfähig. Wer ihr länger zuhört, spürt, dass sie durch unbedachte Worte leicht zu verletzen ist.
Wir kennen uns nun schon einige Jahre. Als 1999 die Vertreibungen aus dem Kosovo einsetzten, rief sie mich an und sagte, die Bilder hätten sie so belastet, dass sie den Fernseher ausgeschaltet habe. »Mir taten die Menschen weiß Gott leid. Und dass sie Hilfe brauchen, ist völlig selbstverständlich«, sagte sie. »Aber es hat mich zerrissen, wenn ich gesehen habe, wie viel Aufmerksamkeit und Hilfe und Mitleid sie heute bekommen haben, vor allem die Kinder. Wir selbst sind doch damals überhaupt nicht wahrgenommen worden. Uns hat nie jemand danach gefragt.«
Christa Pfeiler-Iwohn macht daraus keinen Vorwurf. Sie besitzt Augenmaß und ein großes Wissen über geschichtliche Vorgänge. Sie weiß, dass Krieg nicht gleich Krieg ist und dass jede Zeit ihre eigenen Bedingungen hat. »Für uns war eben nichts da«, sagt sie. 1945 herrschte in ganz Europa extreme Not, während die Menschen der heutigen Krisengebiete, sofern sie Hilfe erhalten, unterstützt werden von Ländern, die seit Jahrzehnten in Frieden und Wohlstand leben.
Als die Russen Königsberg – das heutige Kaliningrad – eroberten, wurde die kleine Christa Augenzeuge eines Massakers: Eine Gruppe Hausbewohner wurde an die Wand gestellt und erschossen. Danach sagte man zu Christas Mutter: Und ihr seid heuteAbend dran! Die Familie überlebte nur deshalb, weil rechtzeitig ein Offizier vorbeikam, der mehr zu sagen hatte als das Erschießungskommando.
Wenige Wochen später starb Christas Mutter. »Zwei Männer haben ein Loch ausgehoben, dort haben wir sie hineingelegt«, sagt sie mit beherrschter Stimme. »Meine Großmutter starb drei Tage später. Ich war gerade elf Jahre alt geworden, und meine Pflegeschwester war achteinhalb. Wir beide blieben dann allein zurück. – Meine Mutter ist verhungert, meine Großmutter auch.« Damit war sie Waise. Ihren Vater hatte sie nicht kennengelernt; er war kurz vor ihrer Geburt durch einen Unfall zu Tode gekommen. Die Elfjährige und ihre kleine Schwester überlebten durch Betteln, Schuften, Stehlen: »Ab und zu fand man Roggen, das wurde dann gemahlen und Schleimsuppe gekocht, oder wir haben an den Russenküchen gebettelt. Manchmal gab es was, manchmal gab es nichts. Ich habe dann russische Uniformen gewaschen. So habe ich mich im Winter einigermaßen über die Runden gebracht.«
Schätzungen gehen davon aus, dass es nach Kriegsende in Königsberg und Umgebung 5000 verwaiste Kinder gab, die sich selbst überlassen waren. Die Kräftigsten unter ihnen schlugen sich nach Litauen durch. Dort wurden sie von der Bevölkerung »Wolfskinder« genannt. Die Jüngeren kamen später in sogenannte Kinderhäuser, die von den Russen in Ostpreußen eingerichtet worden waren. Auch Christa und ihre Schwester wurden dort aufgenommen, zwei Jahre später brachte sie ein Kindertransport in die sowjetisch besetzte Zone. Ihre neue Heimat erhielt bald darauf einen neuen Namen, die DDR.
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