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Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Titel: Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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dass »Klapse noch nie jemandem geschadet haben«.
    Wölfchen war überhaupt so ein Wunderkind, wird die Mutter hinzufügen: Mit einem Jahr schon sauber. Und immer so ein strahlendes Gesicht. Und so schöne Bewegungen, als es dann laufen konnte . . .
    Wenn der Vater noch lebte, er hätte Wölfchens Kindheit womöglich etwas anders geschildert. Wenige Wochen bevor Albert Blank in den Siebzigerjahren starb, hatte er sich laut darüber Gedanken gemacht. »Irgendetwas ist damals schiefgelaufen mit Wolf«, sagte er in einem der wenigen offenen Gespräche mit seiner Tochter. »Er war so ein graziöses Kind. Aber mit drei Jahren wurde er plötzlich verkrampft; und so ist er bis heute geblieben.« »Man hätte ihn vielleicht nicht schlagen sollen«, meinte Renate. Der Vater zuckte zusammen und schwieg.
    Es war das einzige Mal, dass die Tochter es wagte, seine Erziehungsmethoden zu kritisieren. Weil sein Zweitältester mit zwei Jahren noch ins Bett machte, schlug ihm der Vater jedesmal mit einem Stöckchen auf die Beine, bis sie rote Striemen zeigten – mit dem Erfolg, dass der Junge noch mit zwölf Jahren ein Bettnässerwar. Auch scheuchte der Vater seine drei- und vierjährigen Söhne mit nackten Füßchen über die spitzen Steine seines Hofs. Ihr Jammern rührte ihn nicht, im Gegenteil, da mussten die Kleinen dieselbe Strecke wieder zurück . . . Die Schulzeit brachte dann neue Gründe, den Nachwuchs zu quälen. Schlechte Klassenarbeiten und Zeugnisse hatten Prügel zur Folge; alle drei Kinder entwickelten sich zu Schulversagern.
    Von klein auf waren sie eingeschüchtert worden. Widerstand und Widerworte durfte es gegenüber Mutter und Vater nicht geben. Da kam sofort eine Ohrfeige, oder der Rohrstock wurde eingesetzt. Ihr Leben lang wird sich Renate daran erinnern, dass sie als Sechsjährige in einer Gaststätte, »ohne zu mucksen«, etwas Scheußliches austrank – eine heiße Zitrone, die versehentlich mit Salz statt mit Zucker serviert worden war.
    Ihr Bruder Wolf, dem schon so früh die Freude am Leben ausgetrieben worden war, entwickelte sich zu einem Erwachsenen, der sentimental werden konnte, aber kaum je Einfühlsamkeit zeigte. Seine eigenen Kinder schlug er zwar nicht, aber als seine Frau es nicht ertrug, ihr Baby abends im Bett schreien zu lassen, sagte er: »Dann tu dir doch Ohropax rein. Dann hörst du nichts.« Er meinte derartige Problemlösungen völlig ernst – ähnlich wie seine Mutter, die noch im hohen Alter das Verprügeln eines Säuglings für ein geeignetes Erziehungsmittel hielt.
Auch Mädchen weinen nicht!
    Dass in der Nazizeit der Satz »Ein deutscher Junge weint nicht!« ergänzt wurde durch »Auch ein deutsches Mädchen weint nicht!«, ist für Sigrid Chamberlain sehr wichtig: »In den Mädchen wurde nämlich früh und absichtsvoll etwas zerstört, das gemeinhin als ihr Privileg gilt: nämlich das Lebendürfen von Gefühlen. Es wachsen dann Frauen heran, die, wenn sie einmal Mutter werden, ihre Kinder wiederum in einem kaum vorstellbaren Ausmaß innerlich alleinlassen, auch wenn sie es bewußt gar nicht wollen.«
    Wenn ein kleines Kind aufgrund von Schmerzen oder Angst weine und dann wegen seines Weinens geschlagen werde, dann, so Chamberlain, könne es geschehen, »daß das Kind seine eigenen Zustände gar nicht mehr wahrnimmt und sich innerlich völlig abtötet«. Die Soziologin spricht aber auch davon, dass »kümmerliche Reste von Spontaneität« überleben könnten. Diese wiederum könnten sich dann in kleinen Fehlern ausdrücken, die dem Kind »aus Versehen« passieren. Chamberlain stellt fest: »Gerade solche Fehler provozierten oft besonders heftige Wutausbrüche der Mutter.«
    Von Deiner Seite gab es keinen Schutz, sondern nur Verrat. Deine Tochter zu sein hieß, Dir ganz und gar ausgeliefert zu sein: Deinen Launen, Deinem Frust, Deinem Zorn und Deiner gelegentlichen Gnade. War ich unaufmerksam, fiel mir etwas zu Boden, hast Du mich beschimpft oder geschlagen. War ich total in ein Buch vertieft und deshalb nicht in der Lage, ad hoc Deinen Befehlen zu gehorchen, hast Du mich geschlagen. Erst schriest Du: »Hände aus dem Gesicht!« – dann schlugst Du zu. Ich gehorchte jedesmal, ich nahm die Hände vom Gesicht, weil ich an den Rohrstock dachte.
    Du hast von mir absoluten Gehorsam erwartet. Gab ich Widerworte, schlugst Du mir ins Gesicht. Weigerte ich mich, Lebertran zu schlucken, schlugst Du mich ins Gesicht. War ich nicht leise genug, so daß Dein Mittagsschlaf gestört wurde,

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