Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
Besserung trat erst ein, nachdem Elisa ihre Form der seelischen Behinderung akzeptiert hatte und alles in die Wege leitete, um vorzeitig in den Ruhestand gehen zu können. »Es gibt Zeiten«, erklärt sie, »wo meine Schwierigkeiten und mein altes Elend mich wieder einholen, und dann brauche ich eine Auszeit. Wenn ich das berücksichtige, dann haut es mir nicht immer gleich dieBeine weg.« Es ist für sie hilfreich, sich vorzustellen: »Wenn ich zum Beispiel kriegsversehrt wäre und mir würde ein Bein fehlen, dann könnte ich auch nicht so schnell rennen wie die anderen.« Das habe sie sich gemerkt im Laufe der Jahre: Je weniger sie in ihren Tag hineinpacke, desto besser könne sie ihre Grenzen spüren.
Eine Amtsärztin hatte, als es darum ging, die Berufsunfähigkeitsrente zu begründen, in einem Gutachten geschrieben: »Die erlittenen Traumatisierungen von Frau Freiberg sind mit den Erlebnissen von KZ-Häftlingen durchaus vergleichbar und bilden eine ausreichende Voraussetzung für die Entwicklung einer posttraumatischen Persönlichkeitsveränderung.«
Jemand wie Elisa, deren Grenzen als Kind permanent verletzt wurden und die sich später ständig überforderte, musste vor allem lernen, die Warnsignale zu erkennen; merken, wann ihr etwas zu viel wird; nicht darauf schielen, was andere Menschen aushalten; sich abgrenzen, bevor sie zusammenbricht.
»Ich bin unglaublich anfällig für Störungen«, gibt sie zu. Ihre Töchter wüssten Bescheid, sie machten ihr deshalb keine Vorwürfe mehr. »Wenn jetzt die Kinder kommen, dann kann es passieren – wenn ich mich nicht ganz bewusst darauf einstelle –, dass ich plötzlich gefühlsmäßig auseinanderfalle . . .« Dann ist sie tagelang nur noch heulendes Elend, außer Gefecht gesetzt. Dann muss sie sich völlig zurückziehen.
»Und das Schlimme ist, ich kann mich nicht erinnern, an welchem Punkt das eingesetzt hat, dieser Stress. Ich habe keine Anhaltspunkte dafür, was mir dann quergekommen ist.« Und darum bleibe jemand wie sie auch einsam, weil man bestimmte Sachen nicht machen könne, weil ihr dafür die Spontaneität fehle. Es sei ihr eben nicht möglich, auf jedes Zusammentreffen positiv zu reagieren. Sie müsse es vorher planen, nach einem geeigneten »Setting« suchen.
Und dennoch fühlt sie sich keineswegs vom Leben ausgeschlossen. Ängstlich sei sie nicht. Auch die schlimmsten Erfahrungen haben – wenn sie erst einmal überwunden sind – etwasGutes, das weiß sie. »Durch den frühen Elternverzicht habe ich notwendigerweise gelernt, mutig, flexibel und autark zu leben.« Vor allem auf ihren Reisen profitiert sie davon.
Nach unserem Gespräch war sie 400 Kilometer mit dem Fahrrad unterwegs, um Freunde zu besuchen und um das schöne Sommerwetter zu nutzen. »Mein Mann hatte keine Zeit, mich zu begleiten«, sagte sie mir am Telefon. »Da bin ich eben allein losgefahren.« Elisa besteigt ihr Fahrrad so selbstverständlich, wie andere ihr Auto starten.
Im Laufe der Jahre haben sie und ihr Mann ein Faible für Abenteuerurlaube entwickelt. Stets nehmen sie ihre Fahrräder mit. »Wir haben wunderbare Radreisen gemacht«, erzählt sie, »in Afrika, Südamerika, Indien, Thailand.« Zuletzt, auf Kuba, mussten sie 600 Kilometer auf der Autobahn fahren. Das war so nicht geplant; sie hatten gehofft, ein Fahrzeug würde sie mitnehmen, wenigstens einen Teil der Strecke, aber das geschah nicht. Denn auf Kuba mit seinem schlechten öffentlichen Transportsystem ist die Bevölkerung auf Mitfahrten in Lastwagen dringend angewiesen. Diese begehrten Plätze gegen Dollar den Touristen zu überlassen ist offiziell verboten.
In einem tropischen Land tagelang in den Abgasen von LKWs zu radeln verbucht die Sechzigjährige unter Frust. Wie sollte es auch anders sein? Gemessen an dem, was sie in ihrem Leben schon alles bewältigt hat, sind miserable Reisebedingungen etwas Lästiges, mehr nicht. Da strampelt man eben weiter, bis die Zeiten wieder besser werden.
ZEHNTES KAPITEL
Das Trauma, der Krieg und die Hirnforschung
Eine persönliche Katastrophe
Er war ein Bild von einem Mann, stark und mutig. Aber auch launisch konnte der Krieger sein, weshalb nicht immer auf ihn Verlass war, wenn die Kämpfe losgingen. Die Rede ist von Achilles – griechischer Held des Trojanischen Krieges. Nein danke, sagt er, als er wieder einmal aufs Schlachtfeld gerufen wird. An seiner Stelle zieht sein bester Freund in den Kampf. Als Achilles erfährt, dass Patroklos von Hektor getötet wurde,
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