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Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Titel: Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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Wirbelsäule aus, die durch den sogenannten Granatenschock ausgelöst worden sei. Heute sieht man die Ursache im Wesentlichen in der Art der Kampfhandlungen. Als militärisches Novum hatte der Erste Weltkrieg die Schützengrabengefechte eingeführt, und damit waren die Soldaten der absoluten Hilflosigkeit preisgegeben; sie hockten bereits in ihrem eigenen Grab. Ob sie überlebten oder nicht, hatte nichts mehr mit Kampf und Können zu tun, sondern mit statistischer Wahrscheinlichkeit. An manchen Gefechtstagen starben 50 000 junge Männer.
    Schützengräben und massenhafter Tod waren auf allen kriegführenden Seiten anzutreffen, und so auch die Zitterer. Militärpsychiater aller beteiligten Nationen behandelten sie – oder besser: misshandelten sie – mit Kaltwassertherapien und Elektroschocks. Das veranlasste viele Kranke, dem Militärlazarett zu entfliehen, weshalb sie sich kurz darauf an der Front wiederfanden, wo das Zittern erneut einsetzte.
    Was der Erste Weltkrieg in ihrem Vater anrichtete, machte die englische Schriftstellerin Doris Lessing deutlich, indem sie seinen Erzählstil analysierte. »Seine Erinnerungen an Kindheit und Jugend blieben flüssig, Neues kam hinzu, sie wuchsen, wie lebendige Erinnerungen es tun. Doch seine Erinnerungen an den Krieg waren zu Geschichten geronnen, die er wieder und wieder erzählte, mit denselben Worten und Gesten, stereotype Phrasen . . . Für diese dunkle Region in ihm, wo das Schicksal herrschte, wo nichts galt außer dem Schrecken, gab es nur undeutliche Ausdrucksformen, kurze, bittere Ausbrüche von Wut, Unglauben, Verrat.«
    Lessings Vater glaubte, dass er großes Glück gehabt hatte, weil er im Schützengraben nur ein Bein verlor, während alle anderen Männer seiner Kompanie umgekommen waren. Interessant ist, dass nach dem Ersten Weltkrieg traumatisierte Soldaten in großerZahl an die Versicherungen herantraten und Ansprüche stellten, und dies auch wieder in allen beteiligten Ländern. Das war zu viel. Das war nicht zu finanzieren, schon gar nicht während der Weltwirtschaftskrise. In Deutschland kam es zu einem Beschluss des Reichsversicherungsamtes, der alle Ansprüche ein für alle Mal für unberechtigt erklärte. Traumaforscher Sachsse sprach in diesem Zusammenhang von einem perfiden Argumentationsmuster, das lautete: »Sobald jemand eine Rente beantragt, hat er einen sekundären Krankheitsgewinn, der die Ursache stabilisiert und verstärkt, und das spricht dagegen, daß er bezugsberechtigt ist. Das ist ein hervorragender, geradezu klassischer Double bind, aus dem es ja kein Entrinnen gibt: In dem Moment, in dem Menschen mit solchen Symptomen einen Rentenantrag stellen, sind sie Rentenneurotiker und haben deshalb keinen Rentenanspruch.«
    Heute allerdings, so Sachsse, sei der Blickwinkel der Wissenschaft ein anderer. Ihr sei an Fragen der historischen Tiefenwirkung gelegen: »Man erforscht zur Zeit, welche Effekte diese Massentraumatisierungen möglicherweise auf die Geschichte der Nachkriegszeit, auf die Zeit 1920/1930 und die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges hatten.« Es geht also um die Auswirkungen kranker Kollektive auf das politische Handeln nach 1918. Auf die Ergebnisse darf man gespannt sein.
    Im Zweiten Weltkrieg dann versuchten die Amerikaner und Briten, anders mit dem Problem Trauma umzugehen. Als vorbeugende Maßnahme wurde die Gruppentherapie eingeführt. So entstanden therapeutische Gemeinschaften für Soldaten. In Deutschland beschränkte sich die Vorsorge an der Front darauf, reichlich Alkohol und Pervitin zu verteilen, um den Angstpegel herabzusetzen.
    Über die Situation in der Nachkriegszeit, als medizinische Gutachter vor deutschen Gerichten die größten Anstrengungen unternahmen, um die Ansprüche von Holocaustüberlebenden und ehemaligen KZ-Häftlingen abzuwehren, ist bereits im zweiten Kapitel berichtet worden.
    Wirklich effektiv wird die Traumaforschung erst nach demVietnamkrieg. Man schätzt, dass sich bei einer Million Veteranen nach ihrer Heimkehr – teilweise Monate oder auch Jahre später – schwere psychische Beeinträchtigungen zeigten. Die ehemaligen Vietnamsoldaten schlossen sich in mächtigen Interessenverbänden zusammen. Außerdem profitierten sie von der Unterstützung durch ihre Angehörigen, die nicht müde wurden, in der Öffentlichkeit zu verkünden: Unser Sohn war einmal anders, lebensfroh und tüchtig. Heute ist er nicht wiederzuerkennen; ein energieloses Bündel, ohne jede Motivation.
    Es traten auch

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