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Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Titel: Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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Gutachter vor Gericht. Der Neurologe Hermann Oppenheim sprach als Erster von einer traumatischen Neurose, konnte aber auch sie nicht von einer organischen Ursache trennen. 1889 veröffentlichte er seine Überzeugung: »Aus den körperlichen Veränderungen heraus entwickeln sich seelische Symptome.« Wissenschaftlich untermauert waren derartige Aussagen nicht. Menschen, die als Unfallopfer anerkannt werden wollten, wurden in den meisten Fällen als Simulanten diffamiert. Man unterstellte ihnen, sie wollten die Versicherung betrügen.
Gerichtsmediziner schlugen Alarm
    Neben den Streitpunkten Eisenbahnunfälle und Haftpflicht gibt es noch einen zweiten historischen Strang, der zur Beschäftigung mit dem Psychotrauma führte. Mitte des 19. Jahrhunderts hatten Gerichtsmediziner in Frankreich, erschrocken über die große Zahl von Kindestötungen, in denen sie Sexualverbrechen sahen, entsprechende Kriminalstatistiken zusammengestellt.
    Dass der sexuelle Missbrauch bei Kindern im Erwachsenenalter Anfälle verursachte – später als »Hysterie« bekannt –, war eine Hypothese, unter der auch an dem renommierten Pariser Krankenhaus, der Salpêtrière, geforscht wurde. Federführend war der Neurologe und Psychiater Jean Martin Charcot. Er gilt als Entdecker der Psychogenese, sprich: der Lehre von der Entwicklung der Seele und des Seelenlebens. Seine Forschung wurde wiederum zur Initialzündung für Sigmund Freud, der an der Salpêtrière als Volontär arbeitete. Charcot wie auch sein deutscher Kollege Oppenheim sahen die Hysterie als eine – wie man sie heute nennen würde – posttraumatische Belastungsstörung an.
    Die Forschung über unverarbeitete seelische Verletzungen durch Kindesmisshandlung und sexuellen Missbrauch wurde vor allem von dem Charcot-Schüler Pierre Janet vorangetrieben. Aber als Randerscheinung der Medizin wurde sie kaum beachtet und schließlich vergessen. Man kann sagen: Janets Arbeit fiel einem Dornröschenschlaf anheim, bis sie in den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt wurde.
    Freud machte sich zunächst die Einschätzung von Charcot und Janet zu eigen. Später allerdings, nachdem er damit in Wien eisige Ablehnung erfahren hatte, was er auch durch einen Rückgang der Überweisungen zu spüren bekam, revidierte er seine Theorie. Nun betrachtete er den sexuellen Missbrauch nicht mehr als etwas Reales, sondern der Phantasie seiner Patientinnen entsprungen, und dies wiederum führte zu den folgenschweren Irrtümern der Psychoanalyse.
    War sich der Meister selbst in dieser Frage vielleicht doch nicht hundertprozentig sicher gewesen, so ignorierten seine Jünger Freuds Zweifel vollständig. Sie erhoben die Missbrauchsphantasie zum psychologischen Gesetz.
    Allerdings, gibt der Traumaforscher Ulrich Sachsse, Göttingen, zu bedenken, habe die Psychoanalyse mit dieser Position nicht allein dagestanden. In einem viel beachteten Vortrag verwies er darauf, dass es in Frankreich eine ähnliche Entwicklung gegeben habe. »Es gab viele Gegenstimmen gegen diejenigen, die sagten, daß Kindesmißbrauch weit verbreitet sei und daß man gerichtlich einschreiten müsse. Es gab viele, die meinten, das seien alles Phantastereien; insbesondere als dann auch geachtete Männer angezeigt wurden und nicht nur Leute aus Randgruppen, hieß es schnell, das seien alles Spinnereien. Die Frauen, die solche ›Phantasien‹ von sich gaben, kamen in die Psychiatrie als seelisch Verwirrte, und das Thema war damit begraben.«
    Ein hartnäckiges gesellschaftliches Tabu hatte wieder die Oberhand gewonnen – bis es, etwa ab 1980, von der internationalen Frauenbewegung vehement und erfolgreich öffentlich zur Diskussion gestellt wurde. Die Beschäftigung mit dem Psychotrauma reicht also weit zurück, aber es gibt keine durchgehende Tradition. Das zeigt auch die Medizingeschichte der Kriegstraumatisierten.
    Die Forschung beginnt im Ersten Weltkrieg. »Kriegszitterer« wurden sie genannt, weil sie, solange sie an der Front waren, ihr Zittern nicht abstellen konnten. Auch hier wurde wieder ähnlich argumentiert wie im Fall der Unfallopfer, auch hier wurde wieder von Simulanten gesprochen. Wer als Drückeberger galt, musste zurück an die Front, zur Strafe genau dorthin, wo sie am gefährlichsten war, wo Soldaten kaum eine Überlebenschance hatten.
Massentod in den Schützengräben
    Dennoch kam es vor, dass eine ernsthafte Verletzung in Erwägung gezogen wurde. Man ging auch hier wieder von einer Erschütterung der

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