Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
erfasst ihn ein mörderischer Zorn, der alle heiligen Gesetze beiseiteschiebt. Eindringlich beschreibt der griechische Dichter Homer die Verwandlung des Heros zur Bestie. Achilles metzelt Hektor nieder, bindet die Leiche an seinen Wagen und schleift ihn rund um die Stadt, vor den Augen der Trojaner, die auf der Stadtmauer stehen.
Sie war jung, unerfahren und verliebt in einen Prinzen, der nach dem Tod seines Vaters einen verwirrten Eindruck machte. Dann erleidet Ophelia mehrere schwere Verluste. Als Erstes verlässt sie ihr Bruder, der zu einer Reise mit unbestimmter Rückkehr aufbricht. Danach wird ihr Vater – wenn auch versehentlich – von Hamlet umgebracht. Und dann die nächste persönliche Katastrophe: Der Prinz trennt sich von ihr. Er habe sie nie geliebt, sagt er und fordert sie auf: »Geh ins Kloster!« Ophelia verliert den Verstand, sie ist für niemanden mehr erreichbar, singt und summt nur noch vor sich hin. Schließlich ertrinkt sie in einem Bach, und die Totengräber machen sich Gedanken darüber, ob es Selbstmord war oder nicht.
Schon lange bevor die naturwissenschaftliche Medizin es tat, beschäftigte sich die Kunst mit Menschen, die schwere seelische Verletzungen erlitten hatten und danach nicht mehr sie selbst waren. Große Dichter wie Homer und Shakespeare zeigten sichauffällig interessiert an extremen Belastungssituationen, in denen ihre Helden zu Tätern und zu Opfern wurden. Aber auch die zeitgenössische Literatur lässt sich davon faszinieren. Nur ist das Milieu heute eher glanzlos, der Held ein Nobody. In seinem Roman »Der menschliche Makel« zeigt Philip Roth kenntnisreich einen traumatisierten Vietnamveteranen namens Les, der mit seiner Selbsthilfegruppe in ein chinesisches Restaurant einkehrt: Hier soll er lernen, sich an die Nähe von schlitzäugigen Asiaten zu gewöhnen, ohne gewalttätig zu werden.
»Atmen, sagte Louie. Genau. Atmen, Les. Wenn du nach der Suppe nicht weitermachen kannst, gehen wir wieder. Aber die Suppe musst du schaffen. Es ist völlig in Ordnung, wenn du das zweimal gebratene Schweinefleisch nicht schaffst. Aber die Suppe musst du schaffen.« Jedesmal wenn der Kellner am Tisch Wasser nachschenkt, wird Les von einem Grauen gepackt, für das er keine Worte hat. Dennoch löffelt er tapfer die Suppe, ja er nimmt sogar das Hauptgericht in Angriff. Aber dann passiert es: Als sich der Kellner erneut der Gruppe nähert, wird Les von einem starken Zittern überfallen, er springt auf, geht dem Mann an die Gurgel. Er ist wieder im vietnamesischen Dschungel . . .
Das Abgründige, das Böse in Menschen zu erkennen, zu beschreiben und, wenn möglich, seine Herkunft zu erklären hat Schriftsteller interessiert, seit Dramen und Romane geschrieben werden. Schuld, Leid, Gier und die Enge der Konventionen waren die Komponenten, die menschliches Handeln zu Verbrechen entgleisen ließen. Im 19. Jahrhundert dann rückten die sozialen Verhältnisse ins Blickfeld der Dichter und Romanciers. Einer der schärfsten Kritiker des Elends in den Londoner Armenvierteln war Charles Dickens. Ihm verdanken wir erschütternde Einblicke in die damaligen Waisenhäuser, wo die Kinder wie Leibeigene gehalten wurden, sowie präzise Beschreibungen der organisierten Kinderkriminalität: die Welt der kleinen Taschendiebe, die von erwachsenen Gangstern ausgebeutet wurden.
Es begann mit der Eisenbahn
Mit der Industrialisierung kamen die Fabriken, die Eisenbahnen und die Idee des Klassenkampfes – und genau hier beginnt die Geschichte der Traumaforschung. Warum? Was hatte sich verändert? – Knapp gesagt: die Unfälle.
Wenn früher eine Reisekutsche umkippte, lag die Zahl der Opfer vergleichsweise niedrig. Als es jedoch der Dampfmaschine gelang, große Energiemengen zu bündeln und bis dahin ungeahnte Kräfte zu entwickeln, konnte ein Zusammenstoß verheerende Folgen haben. Aufgrund der radikal veränderten Lebensumstände im Zuge der Industrialisierung war bei den Armen ein neues gesellschaftliches Bewusstsein entstanden. Die alte Formel der Selbstbeschwichtigung »Das war schon immer so, dagegen kann man nichts machen« funktionierte nicht mehr, mit der Folge, dass die Massenunfälle auf den Schienen und in den Fabriken nicht mehr als Schicksal hingenommen wurden.
So entstand die Haftpflicht. Erstmals wurden in England vor Gericht Regressforderungen ausgefochten, für die medizinische Gutachten nötig waren. Die Eisenbahngesellschaften und die Unternehmer sollten den Angehörigen der Toten und den
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