Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
amerikanische Ehefrauen auf, die bezeugten: Früher war mein Mann der fürsorglichste Vater, den man sich vorstellen kann. Heute ist er völlig verantwortungslos, und er schlägt schnell zu.
Traumaforschung weltweit
Die erschreckende Zunahme von Depressionen und Gewalttätigkeit in einer ganzen Generation führte schließlich zu neuen Ansätzen in der Traumaforschung wie auch in der Behandlung. Weltweit wurden seitdem Opfer untersucht: Menschen aus politischen Krisengebieten, nach Flucht und Genozid, aber auch nach Erdbeben und Flugzeugabstürzen.
Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Untersuchungen, die nach der Entführung der Lufthansa-Maschine »Landshut« nach Mogadischu gemacht wurden. Für ein Viertel der Passagiere war das traumatische Ereignis nach einer Woche verarbeitet; etwa die Hälfte litt an einer akuten posttraumatischen Belastungsstörung, die ein halbes Jahr anhielt. Bei einem weiteren Viertel hatten sich schwere chronische Beschwerden eingestellt. Sie waren ihr Trauma nicht mehr losgeworden.
Um »traumatische Erfahrungen deutscher Flüchtlinge am Ende des Zweiten Weltkrieges und heutige Belastungsstörungen« ging es in einer Untersuchung, die 1999 veröffentlicht wurde. Die Hamburger Psychologinnen Frauke Teegen und Verena Meisterstellten fest, dass etwa 5 Prozent der 250 Menschen, die sich an ihrem Forschungsprojekt beteiligt hatten, unter voll ausgeprägten posttraumatischen Belastungsstörungen leiden und weitere 25 Prozent unter einer teilweise ausgebildeten Störung, vor allem unter den Schreckensbildern, die sie nicht loslassen.
Wie neuere Studien nachgewiesen haben, kann ein Trauma aber auch jahrzehntelang »ruhen«. Das heißt: ein Mensch ist über diesen Zeitraum völlig beschwerdefrei und leistungsfähig, sodass ihm seine schwere Kindheit überhaupt nicht mehr in den Sinn kommt – und plötzlich tauchen unerklärliche Symptome auf wie Ängste, Depressionen, Wahrnehmungsverzerrungen. Manchmal sind die Verbindungen zur Vergangenheit klar erkennbar, zum Beispiel, als der Kosovokonflikt und die NATO-Bomben auf Belgrad und später der 11. September 2001 bei vielen Deutschen alte Ängste aufrührte.
Auf einer Tagung, die stattfand, während die Amerikaner Bomben in Afghanistan abwarfen, trat plötzlich im Plenum ein weißhaariger Mann auf, der das pure Entsetzen verkörperte. Er stand da, am ganzen Körper zitternd, und brachte, sich ständig wiederholend, seine Fassungslosigkeit über das »Flächenbombardement der Amerikaner« zum Ausdruck.
Immer wieder sprach er vom »Flächenbombardement in Afghanistan«; er konnte sich von dem Begriff gar nicht mehr lösen – obwohl afghanische Städte davon überhaupt nicht betroffen waren. Aber seine Stadt hatte es getroffen, als er mit 14 Jahren Flakhelfer gewesen war. Schließlich gelang es ihm, unter großen Mühen zu erzählen, dass er nach einem »Flächenbombardement der Amerikaner« einem »Schnellkommando« zugeteilt worden sei, das Massen von Leichen aus einem zerbombten Stadtteil bergen musste. Tagelang.
Seine Frau erzählte mir später, ihr Mann habe bis zum Angriff auf Afghanistan keine Probleme mit seinen Kriegserfahrungen gehabt. Es war das erste Mal, dass ich einen Menschen erlebte, der von seinem alten Trauma eingeholt wurde. Ich sehe den Mann immer noch vor mir, zierlich, weißhaarig, zitternd, in einemjugendlichen roten Benetton-Pullover – zurückgebeamt in eine Zeit, die fast sechzig Jahre zurückliegt.
Der Traumaforscher Gereon Heuft, Münster, hat in seinen Untersuchungen herausgefunden, dass Traumata aus der Kindheit häufig auch durch den Prozess des Alterns reaktiviert werden. Er weiß von älteren Patienten zu berichten, die sich – wenn die Kraft nachlässt und der Körper ihnen nicht mehr gehorcht – wieder so verstört und ausgeliefert fühlen, wie sie es als Kinder erfahren haben. »Es hat sich gezeigt«, sagt Heuft, »daß in einem Abstand von dreißig Jahren und länger das Trauma plötzlich reaktiviert werden kann.« Meistens seien diese Zusammenhänge dem Kranken selbst nicht bewusst. Umso wichtiger, meint der Wissenschaftler, dass die Erkenntnisse über Traumareaktivierung in medizinischen Kreisen beachtet werden.
In ihrem Buch »Die Narben der Gewalt« bestätigt Judith Lewis Herman das seelische Phänomen, dass der Zusammenhang zwischen traumatischen Symptomen und ihrem Auslöser verloren gehen könne – dass die Symptome sich verselbstständigen. »Traumatische Ereignisse bewirken
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