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Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Titel: Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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tiefgreifende und langfristige Veränderungen in der physiologischen Erregung, bei Gefühlen, Wahrnehmung und Gedächtnis. Überdies werden diese normalerweise aufeinander abgestimmten Funktionen durch ein traumatisches Ereignis manchmal voneinander getrennt. Der Traumatisierte empfindet beispielsweise intensive Gefühle, kann sich aber nicht genau an das Ereignis erinnern; oder er erinnert sich an jedes Detail, empfindet aber nichts dabei. Er ist vielleicht ständig gereizt und wachsam, ohne zu wissen, warum.«
    Gerade dann, wenn Menschen keinerlei Erinnerung an den Krieg besitzen, weil sie damals noch zu klein waren, kann es bei unklaren Diagnosen sinnvoll sein, genaue Informationen über die frühen Lebensbedingungen zu sammeln. Der Satz: »Als Kleinkind hat man es gut – man vergisst so schnell« taugt vielleicht zur Selbstbeschwichtigung, zu mehr nicht. Nur der zweite Teil stimmt, der erste nicht. Je kleiner Kinder sind, desto eher fühlen sie sich bedroht und desto schneller stellt sich Todesangst ein.Peter A. Levine macht das in seinem Buch »Trauma-Heilung. Das Erwachen des Tigers« an einem einfachen Beispiel deutlich. »Wenn ein Mensch allein in einem kalten Raum zurückgelassen wird, so ist das für ein Baby mit ziemlicher Sicherheit katastrophal, für ein Krabbelkind beängstigend, für ein zehnjähriges Kind belastend und für einen Jugendlichen oder Erwachsenen möglicherweise nur etwas unangenehm.«
Was Kinder instinktiv wissen
    Die Anfälligkeit für Traumatisierungen hat vor allem mit dem Grad des Ausgeliefertseins zu tun. Dennoch, die guten Nachrichten überwiegen. Die meisten Menschen sind in der Lage, lebensbedrohliche Erlebnisse wie Unglücke oder Überfälle nach ein paar Wochen oder Monaten zu verarbeiten. Sie tun dies, grob unterteilt, auf zwei unterschiedliche Arten: indem sie sich gegen die Erinnerungen abschotten, was am besten durch gezielte Ablenkung gelingt, oder indem sie ständig darüber reden und sich gedanklich damit beschäftigen. Kinder tun es, indem sie den Schrecken immer wieder malen oder ihn im Spiel verarbeiten, indem sie die Rolle des Angreifers übernehmen – genau in der Art, wie Margarete Jehn ihre Freundin Leni beschrieb. Die Kindheitserinnerungen gehören zu einer Sammlung von Texten, die Heinrich Böll unter dem Titel »Niemands Land« herausgab.
    Leni Zapf, mit ihren elf Jahren schon aus einem halben Dutzend Städten herausgebombt, kennt die Sprengkraft von Luftminen. Sie weiß über alle Bombentypen, alle Arten von Spreng- und Brandbomben Bescheid, und sie weiß auch, in welchen Kombinationen sie am häufigsten abgeworfen werden. Stundenlang muß ich mit ihr »Großangriff« üben. Leni heult den Vollalarm. Leni greift an. Während sie mir als feindlicher Bomberverband die Hölle heiß macht, verteidige ich mein Leben mit Wasser und Sand, Schaufelund Spaten, Beil und Stemmeisen, bin ich schnell und umsichtig und nie verzagt, bis Leni Entwarnung heult. Dann erst läßt sie mich aus den Augen, dann erst entspannt sich ihr Gesicht, dann erst glaubt sie, daß sie auch aus einer siebten Stadt noch heil herauskommen würde, und ich kann den Rest des Tages andere Spiele mit ihr spielen.
    In Deutschland gab es einen beliebten Kinderreim, der die Warnungen vor Luftangriffen im Radio persiflierte:
    Achtung – Achtung! Ende – Ende!
    Überm Kuhstall sind Verbände.
    Überm Schweinestall sind Jäger.
    Morgen kommt der Schornsteinfeger.
    Kinder wissen instinktiv, dass sie Bedrohungen am besten verkraften, wenn sie in Gemeinschaft mit anderen das Geschehen nachspielen. Meistens sind sie in der Lage, auf diese Weise ihr seelisches Gleichgewicht wiederherzustellen.
    Grundsätzlich gilt: Halten nach einem Trauma die Beschwerden an, wird von einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) gesprochen. Sie gilt heute als eine von der Weltgesundheitsorganisation WHO anerkannte Krankheit. Es sind also wissenschaftliche Kriterien, die der Diagnose zugrunde liegen. Hier ein paar typische Merkmale:
wiederkehrende belastende Erinnerungen und Träume,
das Gefühl, als würde das traumatische Ereignis in der Jetztzeit erneut auftreten – ein Überfluten, das als »Flashback« bezeichnet wird,
oder ein bewusstes Vermeiden von allen Gedanken, Gefühlen, Gesprächsinhalten, die mit dem Trauma in Verbindung stehen,
ein Vermeiden von entsprechenden Orten, Menschen oder Aktivitäten,
Erinnerungsverlust.
    Dazu kommen anhaltende Symptome wie Schlafstörung, Reizbarkeit oder Wutausbrüche,

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