Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
verkrüppelten Opfern Entschädigungen zahlen. Aber nicht nur ihnen: Zunehmend wurden auch zahlreiche Unfallopfer sichtbar, die, obwohl körperlich unverletzt, nicht mehr in der Lage waren zu arbeiten und damit die Familie zu ernähren.
In seinem Buch »Geschichte der Eisenbahnreise« erzählt Wolfgang Schivelbusch von einem Brief, den der Schriftsteller Charles Dickens unter dem Eindruck eines Zugunglücks verfasst hatte. Er schilderte die trümmerübersäte Unfallstelle und seine eigenen günstigen Umstände, die ihn unverletzt ließen, weshalb er in der Lage war, anderen Reisenden zu helfen. Dickens gab auch Auskunft über seine innere Befindlichkeit: »Ich pflege hier sehr viel der Ruhe. Meine Gemütsverfassung ist normalerweise, wie soll ich sagen, durchaus robust (so meine ich wenigstens), und ich war zur Zeit des Unfalls nicht im geringsten erregt. Ich erinnere michaugenblicklich, daß ich noch ein Manuskript bei mir hatte, und ich kletterte zurück in den Wagen, um es zu holen. Indem ich jedoch diese wenigen Worte der Erinnerung niederschreibe, fühle ich mich überwältigt und muß den Brief abbrechen. Ihr ergebener Charles Dickens.«
Anschließend zitiert Schivelbusch einen Amerikaner, der 1835 auf der Strecke Manchester–Liverpool ein vergleichsweise kleines Eisenbahnunglück heil überstand, jedoch später Mühe hatte, auf einer Brücke stehen zu bleiben, während sich unten ein Zug näherte: »Ich konnte seinen Anblick nicht mehr ertragen und wollte weglaufen, denn ich fürchtete, er würde die Brücke unter mir wegtragen. Unwillkürlich schauderte ich und war nicht in der Lage, ihm mit meinen Augen weiter zu folgen. Aber kein Unfall erfolgte, außer in meiner Phantasie.«
Mit dem Schrecken davongekommen, könnte man sagen. Es gab aber auch die anderen Opfer, die sich nicht mehr erholten. Seit den Sechzigerjahren des 19. Jahrhunderts ist aktenkundig, dass Unfallgeschädigte in England vor Gericht über Zittern, Schlafstörungen, Konzentrationsschwäche und überfallartige Erinnerungen der erlebten Schrecken klagten, weshalb ein normales Arbeitsleben nicht mehr möglich sei. Darum forderten sie eine Entschädigung im Rahmen der Haftpflicht.
Das Neue für die Medizin war, dass eine äußerst gemischte Gruppe, obwohl körperlich gesund, über die gleichen Beschwerden klagte. Die Zugkatastrophen trafen jeden, ob jung oder alt, arm oder reich. Die Engländer, die auf finanzielle Wiedergutmachung pochten, besaßen nur eine einzige Gemeinsamkeit: dass sie mit der Eisenbahn verunglückt waren. Für die Gutachter wurde die Situation schwierig, denn die Symptome konnten nicht mehr einem ungesunden Lebensstil zugerechnet werden – wie etwa der schlechten Ernährung der Fabrikarbeiter.
Die Medizin stand grundsätzlich vor einem Problem, galt doch eine Verletzung nur dann als real (und dies noch weitere hundert Jahre), wenn sich eine körperliche Beeinträchtigung zeigte. Trauma bedeutet im Griechischen »Wunde«, hat also mit der Seelenichts zu tun. Mit Trauma bezeichnet man eine unerwartete gewaltsame Einwirkung auf den Körper, so wie man es aus dem Begriff »Schleudertrauma« kennt, das bei Verkehrsunfällen entstehen kann.
John Eric Erichsen, der als medizinischer Gutachter bei den Eisenbahnprozessen in London auftrat, entwickelte die These, dass das Rückenmark in der Wirbelsäule durch den Aufprall erschüttert worden sei, weshalb in damaligen Zeitungsberichten der Begriff »railway spine« auftauchte. »Es muß jedermann klar sein«, schrieb Erichsen in einem Gutachten, »daß der Schock in keinem gewöhnlichen Unfall so groß sein kann wie bei Eisenbahnunfällen. Die Geschwindigkeit und die Wucht, mit der der Zug und das in ihm sitzende Opfer dahinrasen, die plötzliche Hemmung, die Hilflosigkeit der Verletzten und die ganz natürlich daraus folgende Verwirrung des Bewußtseins, der sich auch der Furchtloseste nicht entziehen kann – all das sind Umstände, welche die Heftigkeit der daraus folgenden Verletzung des Nervensystems verschärfen, und man muß diese Fälle daher als irgendwie unterschieden von den gewöhnlichen Unfällen betrachten.«
Es gab aber auch schon Gutachter, die den Schreck und den Schock verantwortlich machten und vom »railway brain« sprachen, vom »Eisenbahngehirn«. Damit befanden sie sich, wie heute die Hirnforschung zeigt, durchaus auf der richtigen Spur.
Im Jahr 1871 wurden in Deutschland die ersten Gesetze zur Haftpflicht erlassen. Auch hier kam es zum Streit der
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