Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
Ich wünsche mir, dass eine väterliche oder mütterliche Autorität dem Gezänk und der Ideenlosigkeit ihre Stimme der Vernunft entgegensetzt. Die Fakten, die allgemein bekannt sind und nicht mehr infrage gestellt werden, reichen dafür allemal aus.
Es bedarf eines gesellschaftlichen Diskurses, aber der versickert immer wieder. Vielleicht wäre es günstiger gewesen, das Thema Luftkrieg wäre durch einen anderen Anlass in die Öffentlichkeit gelangt als durch Jörg Friedrichs Bestseller »Der Brand«. Aber wenn etwas kaum Beschreibbares wie das Grauen der Bombenangriffe so lange im Untergrund rumort hat, dann ist sein Auftauchen nicht mehr steuerbar, weder von den Betroffenen noch von den Rationalisierern, nicht von den Historikern und erst recht nicht von den Massenmedien. Sie können Themen nur ignorieren oder aufheizen, aber sie nicht in vernünftige Bahnen lenken.
Ich konnte die Kritik an Jörg Friedrich nicht so recht begreifen. Vielleicht wird sich mit genügendem Abstand zeigen, dass »Der Brand« für die Kriegskindergeneration eine ähnliche Bedeutunghatte wie Alice Schwarzers »Der kleine Unterschied und die großen Folgen« für die neue Frauenbewegung. Auch damals, 1975, war es für die Kritiker leichter, in diesem Buch eine haltlose Aneinanderreihung von Behauptungen zu sehen, als sich zu fragen, warum die Leserinnen es so fasziniert verschlangen, vor allem aber, wieso es fremde Frauen dazu brachte, einander plötzlich ihre imtimsten Dinge zu erzählen.
Mag ja sein, dass Friedrichs Präsentation, wie seine Gegner sagen, »wissenschaftlich unredlich« und seine Sprache allzu emotionalisierend ist. Aber schließlich: Friedrich war selbst ein Kriegskind, vielleicht wusste er besser als die Nachgeborenen, was seine Altersgenossen zum Thema Bombenkrieg brauchten. Vielleicht spürte er ihr Bedürfnis, endlich miteinander ins Gespräch zu kommen, und lieferte dafür die Initialzündung.
Nach dem Erscheinen von »Der kleine Unterschied und die großen Folgen« ging es überhaupt erst richtig los mit der Frauenliteratur in Deutschland, auch mit der Frauenforschung. In einigen Jahren werden wir wissen, was für eine Veröffentlichungswelle »Der Brand« ausgelöst haben wird.
Von den heftigen Gefühlen zurück zu den Fakten, zu den heute gesicherten Erkenntnissen der Traumaforschung. Es gibt Kriterien, mit deren Hilfe sich der Behandlungserfolg in etwa voraussagen lässt. Man weiß, unter welchen Bedingungen sich Patienten wieder gut erholen und welche Umstände eine Genesung verhindern. Günstig ist es vor allem, wenn ein Opfer den Trost der Gemeinschaft erfährt. Das kann eine Familie sein, aber auch die ganze Verwandtschaft, oder noch besser, wie in bestimmten afrikanischen Traditionen, das ganze Dorf. Wichtig ist, dass einem Menschen vor einem Kreis von Zeugen gesagt wird: Ja, dir ist Unrecht widerfahren. Ja, es gibt allen Grund, dass du zurzeit mit deinem Leben nicht gut zurechtkommst. Es ist normal, dass du jetzt verwirrt oder unendllich traurig bist. Es ist gut, zu weinen und sich anderen Menschen anzuvertrauen.
In unserer Kultur finden Gemeinschaftsrituale, in denenöffentlich Unrecht bezeugt wird, nur im Gerichtssaal statt. Dort steht aber nicht das Opfer im Mittelpunkt, sondern der Täter. Und da Richter nicht die Aufgabe haben, Trost zu spenden, sondern die Wahrheit herauszufinden, weshalb Opfer häufig wenig einfühlsam befragt werden, besteht die Gefahr, dass Gerichtsverhandlungen einem traumatisierten Menschen eher schaden.
Was bleibt? Eigentlich nur die Trauerfeier. Tränen sind erlaubt. Die Gemeinschaft tröstet. Vorausgesetzt, es handelt sich um ein stimmiges und nicht um ein leeres Ritual. Für ein früheres Buch habe ich mehrere Elternpaare, die ihr Kind verloren hatten, danach gefragt. Ihre Antworten machten die Unterschiede zwischen einer noch zusätzlich belastenden und einer hilfreichen Trauerfeier sehr deutlich.
Die Befreiung durch eine Trauerfeier
Dass Trauer keine Krankheit ist, sondern zu heilen vermag, erfuhr Hildegard Schwarz* auf völlig unerwartete Weise. An einem Märztag im Jahr 1995 nahm sie abends an einem Trauergottesdienst teil. Als sie ihre Reise in ihre Heimatstadt plante, ahnte sie nicht, was sie dort erwartete. Sie wollte nur, wie jedes Jahr zur selben Zeit, auf den Friedhof gehen. Im März 1945 war die Kleinstadt bei einem Luftangriff – der einzige seit Kriegsbeginn – fast vollständig zerstört worden. Dieser Katastrophe wurde nun, fünfzig Jahre später, in
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