Die vergessene Sonne - Ride, C: Die vergessene Sonne - The Inca Cube
war.
Wilson blickte in Acllas dunkle Augen, und sofort sah er sie rittlings auf ihm sitzen. Dieses Bild und das Gefühl, das er bei diesem Anblick gehabt hatte, würde er für den Rest seines Lebens mit sich herumtragen. Nach dem Aufwachen hatte er sich noch gesagt, dass seine Begegnung mit Aclla und Chiello bedeutungslos gewesen sei, doch wenn er Aclla jetzt ansah, hatte er schon wieder Verlangen nach ihr.
Er nahm das Etui entgegen.
»Was ist darin?«, fragte er.
»Du hältst die heiligen Worte Pachacutis in der Hand. Die Proklamation, die den Würfel in das Verlies unter den Sonnentempel verbannte. Es ist unser wertvollstes Dokument.«
»Und die Mamaconas wollen, dass ich es habe?«
»Es scheint, dass die Zukunft der Welt von dir abhängt, Wilson Dowling. Wir hoffen, dass etwas von der Kraft unseres einstigen Königs, der allein durch Willenskraft das Böse des Würfels bezwingen konnte, auf dich übergeht, damit du siegst.«
»Soll ich es jetzt öffnen?«, fragte er.
»Das liegt bei dir.«
Wilson blickte in ihre Augen und sah keinerlei Gefühl darin, nur die konzentrierte Entschlossenheit, die sie auch sonst ausstrahlte.
»Es ist in Quechua geschrieben«, sagte sie, während sie unter das Vordach trat und sich den Poncho über die Schultern nach hinten schob, sodass ihr erstaunlicher Körper zum Vorschein kam. »Ich werde es dir übersetzen müssen.«
Wilson band die Kordel auf und kippte sich den Inhalt des Etuis in die Hand. Einen Erlass von Pachacuti zu sehen war etwas ganz Besonderes. Die Wissenschaft ging davon aus, dass die Inkas keine Schrift gehabt hatten – und wenn es anders war, so war dies sicherlich eines der großen Geheimnisse der Welt.
Er kniete sich hin, rollte das weiche Leder in Form eines leicht verzogenen Rechtecks auseinander und legte es auf die trockenen Steinplatten. Als Aclla sich neben ihn kniete, konnte er ihre Wärme spüren.
Er betrachtete das alte Dokument und staunte, wie ausnehmend schön die schwarzen Schriftzeichen geformt waren. Offenbar hatte man sie in das Leder eingebrannt. Er hatte noch nie eine so künstlerisch anmutende, eigentümliche Schrift gesehen und bemerkte, dass es keine Satzzeichen gab.
Aclla passte auf, dass kein Regenwasser von ihrer Kleidung auf das Dokument tropfte. Sie zeigte auf die Buchstaben und begann zu übersetzen: »Es ist das wertvollste Ding auf Erden. Menschen werden ein Leben lang danach suchen, um es an sich zu bringen, und nicht einmal verstehen, was sie treibt.« Ihre Stimme war ruhig und fest. »Schon die Andeutung seiner Existenz wird die Menschen zu Verbrechen von unaussprechlicher Grausamkeit treiben. Sein Glanz wird auch die Seelen der Reinsten und Zivilisiertesten in seinen Bann schlagen, die dann bereitwillig die Unschuldigen quälen werden in ihrem schmutzigen Verlangen, es zu besitzen – solche Macht hat es.«
Acllas Stimme schwankte bei keiner Silbe. »Täuscht euch nicht. Ein jeder Mensch würde sich diesem unheiligen Streben hingeben. Es gibt keine wirkungsvolle Abwehr gegen die Macht dieses Dings. Denn sein Glanz hält einen Teil von uns in seiner formbaren, aber unzerstörbaren Hülle gefangen. Reiche werden durch seinen Besitz aufsteigen und fallen. Schon der kleinste Teil von ihm kann in den Wahnsinn stürzen. Geschmiedet von Inti nach seinem Bilde ist dies die Spitze des Berges, ein Leuchtfeuer, in dem das Verlangen selbst wohnt. Dieses Ding und sein Einfluss können nicht ohne ungeheure Opfer beherrscht werden. Selbst mit meinem großen Wissen, meiner göttlichen Weisheit und unbeschränkten Macht ringe ich darum, mich von dem zu lösen, was ich heute in den Händen halte. Ich bin verzaubert und weiß dennoch, was ich tun muss.«
Wilson betrachtete die komplexen Schriftzeichen, an denen Acllas Finger vorbeiglitt.
»Um dieses glänzende Ding zu schützen, will ich eine Stadt in den Wolken bauen«, fuhr Aclla mit tieferer Stimme fort. »Auf dem heiligen Mittelpunkt der Axis Mundi soll eine natürliche Festung von unübertroffener Reinheit erschaffen werden, wo dieses schreckliche Ding hoffentlich bis ans Ende der Zeit gehütet wird, bewacht von den scharfen Augen des Kondors, umgeben von einem Kristallbann und geschützt von einem Heer, das in alle Ewigkeit dort stehen soll und nicht vom fauligen Geruch der Macht verführt werden kann, der dieses Ding umweht wie süßer Blumenduft; denn es ist so tückisch wie der teuflischste Gedanke, den ein Mensch ersinnen kann.
Vom heutigen Tage an soll alles Geschriebene
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