Die vergessene Sonne - Ride, C: Die vergessene Sonne - The Inca Cube
eine Stadt anzusiedeln. Der Boden war fruchtbar, es gab reichlich Wasser, die Temperaturen waren angenehm, kühl im Sommer und mild im Winter. Zuvor war die Senke vermutlich dicht bewaldet gewesen.
Aclla stand neben Wilson und schaute ebenfalls zur Stadt hinab. Ihr schwarzer Poncho ließ nur ihre Augen frei. »Irgendwo da unten befindet sich der Würfel.« Sie deutete auf die Lichter. »Wie willst du erfahren, wo genau?«
Wilson überlegte eine Weile, ehe er antwortete. Er wusste nicht, wie er es erklären sollte. »Ich habe Kontakt zu einem Geist, der meine Hand führen wird«, sagte er schließlich. »Zum Geist einer Frau«, fügte er in der Hoffnung hinzu, dass Aclla dann mehr Zuversicht in ihn setzte. »Sie kann durch Wände sehen, was wir nicht können. Sie wird meine Hand führen, und dann werde ich dir sagen, wo er liegt.«
»Du darfst den Würfel nicht anfassen«, warnte Aclla.
»Das weiß ich.«
»Ich bete zu den Göttern, dass dein Geist ihn findet.« Aclla hielt den Blick auf die Lichter der Stadt gerichtet. »Wir müssen seine Macht wieder einsperren.«
»Sie wird ihre Sache gut machen, sei unbesorgt«, sagte Wilson.
Plötzlich dachte er voller Bestürzung daran, wie wichtig seine Mission in Peru war und was für einen entscheidenden Vorteil Helena dabei darstellte. Ohne sie wäre es sehr schwierig, den Würfel aufzuspüren, und Wilson war zutiefst dankbar für die Verbindung zu ihr. Helena war immer eine starke Kraft in seinem Leben gewesen, ungeachtet der kurzen Zeit, die sie zusammen gewesen waren. Offenbar konnte nicht einmal eine zeitliche Barriere von einhundertsechs Jahren die Verbindung zwischen ihnen kappen.
Wilson hatte den größten Teil der letzten acht Jahre mit Warten zugebracht. Er war nach China gereist, um seine Aufgabe im Boxeraufstand zu erfüllen, und von da aus war er 1902 nach Australien gegangen und hatte sich in einem Fischerdorf namens Eden im südlichen New South Wales niedergelassen. Er angelte gern und konnte sich relativ unauffällig in die Dorfgemeinschaft einfügen. Meistens war er für sich geblieben, entweder zu Hause oder auf seinem Boot, aus Angst, seine Anwesenheit könnte sich ungünstig auf die Zukunft auswirken.
All die vergeudeten Jahre, dachte er.
Als Zeitreisender machte er zweifellos erstaunliche Erfahrungen, doch der Preis dafür war enorm. Während er seine Pflicht tat, verlor er Menschen, die er schätzte, und war von seiner vertrauten Welt abgeschnitten. Er war froh, dass er wenigstens einen klaren Auftrag hatte, auf den er sich konzentrieren konnte: die Wiederbeschaffung des Inka-Würfels. Mit Hilfe der Sonnenjungfrauen würde er die Geschichte wieder in die vorgesehenen Bahnen bringen. Leider würde er dabei Menschen töten müssen, aber damit hatte er sich bereits abgefunden.
Ich bin der Aufseher, versicherte er sich.
Auf eine Geste von Aclla hin sausten vier schwarz verhüllte Kriegerinnen wie Fledermäuse in den Dunst der Nacht. Aclla, Wilson und Sontane standen noch einen Augenblick lang beieinander, während ihnen der Sommerwind den Regen in den Rücken trieb. »Wenn Sontane oder ich verwundet werden und Gefangennahme droht«, sagte Aclla, »ist es jeweils die Pflicht der anderen, der Betroffenen das Leben zu nehmen. Du musst das unterstützen.«
Wilson nickte. »Seht nur zu, dass ihr unbemerkt bleibt. Ich werde in Erfahrung bringen, wo der Würfel ist, und wieder zu euch kommen. Wenn wir uns aus irgendeinem Grund verfehlen, treffen wir uns am Poroy Picchu, einverstanden?«
Sontane sagte etwas auf Quechua, aber Aclla befahl ihr zu schweigen.
»Einverstanden«, sagte Aclla. »Wir werden auf dich warten.« Dann folgten sie den anderen.
Es dauerte zwanzig Minuten, um von dem Kamm durch die dunklen Straßen ins Zentrum von Cusco zu laufen. Wie die alte Kundschafterin gesagt hatte, waren die Fenster der Häuser mit Brettern vernagelt, und keine Menschenseele war zu sehen. Sie näherten sich den Lichtern der Plaza de Armas.
Aclla deutete nach oben, und sie kletterten am Fallrohr der Regenrinne aufs Dach. Währenddessen lauschte Wilson gespannt auf die Geräusche des Regens und auf das Gurgeln und Rauschen des Wassers im Fallrohr, das schließlich die leicht abschüssige Kopfsteinpflasterstraße hinunterfloss. Bei jedem ungewöhnlichen Laut, bei jedem Knirschen, das er auf den Dachziegeln verursachte, fürchtete er, entdeckt zu werden. Die Amazonen dagegen bewegten sich geräuschlos und dazu noch sehr schnell. Der Regen schlug ihm ins
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