Die vergessene Sonne - Ride, C: Die vergessene Sonne - The Inca Cube
Zimmer. Die Auszeit hatte sie sich verdient. Sie war die vergangene Nacht aufgeblieben, um Wache zu halten. Helena hatte auch nicht viel geschlafen, allerdings nicht aus Sorge um ihre Sicherheit. Was sie beschäftigt hatte, war die Frage, wieso sie nicht mit Wilson in Kontakt treten konnte, seit sie in Machu Picchu angekommen war. Sosehr sie sich das Gegenteil wünschte, die Verbindung mit dem Zeitreisenden schien gekappt zu sein.
Alle waren überrascht gewesen, als Helena sagte, dass sie bleiben wolle. Nach dem nervenaufreibenden Vorfall im Zug konnte niemand verstehen, warum sie nicht sofort abreiste. Zevallos hatte angeboten, den Don und seine Leute für eine Nacht in Gewahrsam zu lassen – in der einzigen Zelle, die der örtlichen Polizei zur Verfügung stand –, damit sie nicht mit Eravisto zusammen nach Cusco zurückfahren müsste. Aber Helena hatte abgelehnt und darauf bestanden, dass Zevallos die Gesellschaft am selben Tag in den Gegenzug setzte. Damit hatten wiederum andere Passagiere ein Problem, die den Vorfall auf der Hinfahrt miterlebt hatten. Die wollten sofort zurückfahren, aber nicht zusammen mit den Verhafteten.
Chad redete auf Helena ein, abzureisen. Sie könne für ihre Sicherheit sonst nicht garantieren. Don Eravisto verfügte über weitreichende Kontakte und Möglichkeiten, und sie fürchtete einen Anschlag auf Helena. Doch es blieb bei der Entscheidung. Helena sah sich kurz vor einer erstaunlichen Entdeckung und wollte unbedingt die Inka-Ruinen, vor allem den Sonnentempel besichtigen und erfahren, warum ihre Träume sie hierhergeführt hatten.
Seit sie aus dem Zug gestiegen war, hatte sie mit einer neuen Vision oder einem Zeichen von Wilson gerechnet. Und während der Bus die beängstigend steilen Serpentinen hinaufgefahren war, war ihre Erwartung weiter gestiegen. Der Regen ließ überhaupt nicht nach, der Wind war böig und der Himmel schwarz wie ein Loch, als sie in dem kleinen, luxuriösen Hotel eincheckte, das bei der alten Inka-Zitadelle auf dem Kamm lag. In ihrem Zimmer hatte sie den Wecker so gestellt, dass er bei Sonnenaufgang klingelte. Mit dem Colt auf ihrer Brust lag sie dann die ganze Nacht wach und wartete, dass etwas passierte. Sie hatte eine sentimentale Vorliebe für diese Waffe entwickelt, nachdem sie damit fast erschossen worden war.
Noch bevor der Wecker klingelte, war Helena aufgewacht. Sie zog sich ihre schwarze Wanderkleidung an und steckte den Colt in die wattierte Weste. Zusammen mit Chad ging sie auf eine schnelle Tasse Kaffee und eine Scheibe trockenen Toast nach unten in den Speiseraum. Dann machten sie sich jeder mit einem Schirm ausgerüstet unter Pablos Führung auf den Weg. Die Schwellung in seinem Gesicht war zurückgegangen, doch die Wunde auf dem Nasenrücken hatte mit sechs Stichen genäht werden müssen.
In der Ferne donnerte es, während sie den steilen Weg zum Wachhaus hinaufstiegen. Nebelschwaden hingen in der feuchten Luft und machten es schwierig, mehr als ein paar Schritte weit zu sehen. Durch den morastigen Boden zogen sich Rinnsale, die ins Tal flossen, von wo das Tosen des Urubamba schwach zu hören war.
Helena verspürte eine brennende Ungeduld im Bauch. Es war das erste Mal, dass sie vor einem alten Inka-Bau stehen würde.
»Pablo, ich möchte, dass Sie mich zum Sonnentempel führen«, sagte Helena, als sie durch das Wachhaus die Welterbestätte betraten. Es war niemand da außer dem Angestellten, der ihre Eintrittskarten entgegennahm und die Pässe stempelte. Offenbar waren sie die einzigen Touristen, die dem schlechten Wetter trotzen wollten.
Pablo trug einen durchsichtigen Plastikponcho, der ihm bis an die Knie reichte, und einen breitkrempigen Hut mit wasserdichtem Überzug. Seine Füße steckten in kniehohen Gummistiefeln. »Natürlich. Aber bitte achten Sie auf jeden Ihrer Schritte, Señorita. Die Felsen können sehr schlüpfrig sein, und Sie können es jetzt zwar nicht sehen, aber rechts von uns geht es über dreihundert Meter in die Tiefe. Also, bitte seien Sie vorsichtig.«
Helena spähte in den wabernden Nebel.
»Schon ein Sturz aus fünfzehn Metern Höhe ist tödlich«, sagte Chad in nüchternem Ton. »Die größeren Zahlen hören sich nur beeindruckender an.«
Mit keinem Wort hatte Chad die sonderbare Unterhaltung zwischen Helena und Don Eravisto erwähnt. Es war, als hätte sie den Vorfall ausgeblendet und konzentrierte sich ganz auf die Erfordernisse des Augenblicks. Oder es gehörte zum Verhaltenskodex eines
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