Die vergessene Sonne - Ride, C: Die vergessene Sonne - The Inca Cube
professionellen Leibwächters, keine Fragen zu stellen.
»Passen Sie auf, wo Sie hintreten«, sagte Pablo, als sie ein paar steile Stufen hinaufstiegen.
Helena hatte sich zahllose Aufnahmen der Stätte angesehen und im Internet viel über Machu Picchu gelesen. Es war ein Ort von seltener Schönheit, und sie hatte die Bauweise der alten Inka-Stadt bewundert, die zwischen zwei Gipfeln auf einem Kamm lag. Rings um die Zitadelle gab es atemberaubende Steilhänge, die sie fast unangreifbar gemacht hatten. So weit das Auge reichte, konnte man in alle Richtungen über vereiste Andengipfel sehen. Ein fantastischer Ausblick, wenn das Wetter es zuließ.
Doch an diesem Tag war es diesig vom Regen, sodass fast nichts zu sehen war. Die Temperatur variierte enorm, je nach Windrichtung war es mal warm, mal empfindlich kalt. Pablo meinte, dass das an der feuchten Luft vom Pazifik läge, die in die eisige Luftmasse über den Gletschern eindrang, weshalb es auch im Sommer so viel regnete. Helena sah nur Nebelschwaden sowie sorgfältig geschichtete Bruchsteinmauern und Treppen, die bergan durch die Stadt führten. Die Wege waren steiler als erwartet, und in dieser Höhe beschleunigte sich der Atem ohnehin. Man war nicht ganz so hoch wie in Cusco, aber hoch genug, um Schwierigkeiten zu bekommen, wenn man sich zu sehr anstrengte.
»Das ist das Wachhaus«, sagte Pablo, als Helena schnaufend die Stufen heraufkam. An dem Treppenabsatz stand ein Gebäude mit drei Mauern und einem Strohdach, das auf Querbalken ruhte. »Hier sind wir an der höchsten Stelle der Agrarterrassen«, erklärte Pablo, während er sie unter das Dach ins Trockene führte. »Von hier hat man einen freien Blick in die Täler auf beiden Seiten und zum Inka-Pfad. In der Schlucht gab es auch mal eine Hängebrücke, damals noch die einzige Möglichkeit, nach Machu Picchu zu gelangen. Und von hier aus hat man eine fantastische Aussicht.«
Chad starrte durch die trapezförmigen Fensteröffnungen in den Nebel. »Ich werde es dir einfach glauben müssen.«
Helena wartete darauf, dass etwas passierte. »Bringen Sie mich zum Sonnentempel«, sagte sie wieder. »Sie können auf dem Weg dahin über die Ruinen erzählen.«
Pablo senkte den Hutrand und trat ins Freie, um einer rasenbedeckten Terrasse zu folgen, die in gemächlichem Bogen nach rechts führte, an einer drei Meter hohen, perfekt anmutenden Bruchsteinmauer entlang. Nach ungefähr hundert Metern ging es über einige schön angelegte Treppen hinunter.
Neben ihnen floss glasklares Wasser durch den Kanal eines eindrucksvollen Aquäduktsystems. »Hier gibt es sechzehn natürliche Quellen«, fuhr Pablo fort. »Das Wasser kommt aus dem Innern des Machu Picchu oberhalb von uns. Die Quellen liefern das ganze Jahr über klares Wasser, und es sind die einzigen in der ganzen Region, die das tun. Wie Sie sehen, sind die Stadtmauern in sehr gutem Zustand. Als Hiram Bingham hierherkam, waren die Ruinen überwuchert, sodass er sie von Bäumen und Büschen befreien ließ. Die Bauten sind dann rekonstruiert worden, um die einstige Pracht der Anlage sichtbar zu machen. Über fünfzig Jahre lang haben fünfzig Leute daran gearbeitet. Fehlende Steine wurden aus dem alten Steinbruch gewonnen und nach traditioneller Bauweise eingesetzt.«
Helena wusste, dass der Sonnentempel in unmittelbarer Nähe war, und fragte sich unruhig, was sie dort vorfinden würde.
»Wir sind jetzt im Zentrum des einstigen Wohnviertels«, sagte Pablo. »Beachten Sie die Baukunst. Hier sieht man einige der schönsten Bauwerke der Welt. Die verbauten Granitquader wurden rechtwinklig behauen und geglättet. Sehen Sie, wie makellos sie aufeinanderliegen? Es wurde kein Mörtel benutzt. Das ist Präzisionsarbeit. Die Inkas haben hier erdbebensicher gebaut.« Pablo zeigte treppab. »Und der schönste Bau von allen steht da unten: der Sonnentempel.«
Helenas Herz schlug schneller. Ihre Träume waren immer sehr deutlich gewesen. Nachmittagssonne fiel durch die trapezförmigen Fenster. Helena stand am Fuß des Gebäudes vor der dreieckigen Öffnung. Im hellen Gegenlicht konnte sie nur schlecht sehen, doch sie wusste, dass etwas in dem Raum dahinter war, was sie entdecken musste.
Wird Wilson da drin sein?, fragte sie sich.
Als sie die schlüpfrigen Stufen hinabging, prasselte der Regen heftiger, sodass man kaum etwas anderes hören konnte. Helena wurde immer ungeduldiger. Das Regenwasser floss in Bächen über die Treppen, wurde schneller und gewann an Kraft, je mehr
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