Die vergessene Sonne - Ride, C: Die vergessene Sonne - The Inca Cube
auch froh, wieder hier zu sein«, flüsterte er. Als er noch einmal zu seinen Kindern hinüberspähte, musste er unwillkürlich an Corsell denken. Gonzales hatte schon viele Tote gesehen, doch dieser sah auffallend anders aus. Es war, als wäre die Seele in seinem toten Körper geblieben und als würde sich seine Qual nun bis ans Ende der Zeit fortsetzen.
Bischof Francisco war für Corsells Tod verantwortlich. Auf seine Anweisung hin hatten die Kirchendiener den jungen Mann an Händen und Füßen an ein selbst gezimmertes Kreuz geschlagen und dann an den Glockenturm gehängt. Was für ein Wahn war das, der in dieser modernen Zeit eine so grausame Tat hervorbrachte, und das auch noch in der schönsten Kirche von ganz Südamerika? Durch die Kreuzigung wurden keine neuen Verbrechen verhindert; die Vorfälle der letzten Tage hatten das bewiesen. Der Bischof verlor offensichtlich den Verstand, dachte Gonzales. Der Mord an Monseñor Pera und die folgenden Bluttaten waren offenbar zu viel für ihn.
»Gelobt sei Jesus Christus«, flüsterte er und starrte auf die Umrisse des Kreuzes, das über dem Kinderbett an der Wand hing.
Gute zwei Stunden lag er da und dachte darüber nach, was er erlebt hatte und warum. Einerseits wollte er schlafen, andererseits hatte er Angst, die Augen zu schließen, ehe es hell wurde. Am Ende war es die reine Erschöpfung, die ihn trotz seiner Sorgen einnicken ließ.
Von einem Schlag auf den Bauch fuhr Gonzales mit einem Aufschrei aus dem Schlaf. Die Sonnenstrahlen fielen durchs Fenster herein, und sein Söhnchen Ortega saß rittlings auf ihm. Zum Glück hatte Gonzales nicht aus einem Reflex heraus zugeschlagen.
»Ich habe dich vermisst, Papa!«, rief der Sechsjährige und hüpfte lachend auf ihm herum.
Sarita lag mit dem nackten Rücken an seine Hüfte geschmiegt. Ihr Anblick und der Duft ihrer glänzenden Haare waren ihm so vertraut wie alles in diesem Haus. Augenblicke später turnten alle drei Kinder auf ihm herum und quietschten vor Vergnügen: sein Ältester, Arturo, gerade acht Jahre alt, der Frechdachs Ortega und seine kleine Prinzessin Juanita, die kürzlich drei geworden war. Unter dem vereinten Gewicht der drei spürte er seine schmerzenden Beine und seinen Rücken umso mehr.
»Schön, dass ihr alle da seid.« Seine Stimme klang belegt. »Papa hat einen langen Ritt hinter sich.« Er gab den Kindern einen Kuss und wandte sich seiner Frau zu, die ihn anlächelte. Bei einem Blick durch das kleine Schlafzimmerfenster stellte er fest, dass sich die Regenwolken endlich verzogen hatten. Es war noch früh, und er fragte sich, ob er überhaupt geschlafen hatte. »Papa ist müde«, sagte er schläfrig, während er seine Kinder eines nach dem anderen anhob und auf den Boden stellte. »Geht mit eurer Mutter, sie wird euch ein großes Frühstück machen!« Er hoffte, seine Sprösslinge mit diesen Worten zu ermuntern, ihn in Ruhe zu lassen, damit er weiterschlafen konnte, ehe die Gedanken zurückkehrten. »Nimm sie mit«, sagte er zu seiner Frau.
»Rasch, Kinder, euer Vater braucht Schlaf.« Sarita küsste ihren Mann auf die Stirn, dann gingen die vier hinaus.
Als Gonzales wieder wach wurde, saß Sarita mit einer dampfenden Tasse Koka-Tee neben ihm auf der Bettkante. »Trink das«, sagte sie.
Gonzales hob den schmerzenden Rücken an, schob sich ein Kissen unter und nahm den Becher entgegen.
»Es ist früher Nachmittag, und wir müssen zur Messe gehen«, sagte Sarita. Sie trug ihr bestes schwarzes Kleid und einen schwarzen Schal um die Schultern.
Gonzales schüttelte den Kopf.
»Es ist Sonntag!«, erklärte sie ruhig lächelnd.
»Ich finde, wir sollten heute nicht zur Kirche gehen«, erwiderte Gonzales. »Nicht heute.« Er deutete in Richtung der Kathedrale. »Der tote Corsell hängt noch immer draußen am Kreuz. Ich will nicht, dass die Kinder das sehen, Chiquita.«
»Wir können den kleineren die Augen zuhalten wie andere Eltern auch. Und wegen Arturo brauchen wir uns keine Gedanken zu machen. Er ist schon ein paar Mal mit seinen Freunden an der Kirche gewesen, um sich den Toten anzusehen.«
»Ich hatte gesagt, dass er nicht hingehen darf!«, hielt Gonzales ihr verärgert entgegen.
»Ich konnte ihn nicht daran hindern«, erwiderte sie. »Er wird langsam groß und tut, was er möchte, besonders wenn du nicht da bist.« Sarita legte ihm die Hand auf die Brust. »Es ist so ein schöner Tag heute, Lucho, der erste seit Wochen. Die Kinder sind angezogen und ausgehfertig. Ich meine, wir
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