Die vergessene Sonne - Ride, C: Die vergessene Sonne - The Inca Cube
der Zugfahrt hierher zog ein gewisser Don Eravisto einen Revolver und wollte mich erschießen.« Als Wilson etwas sagen wollte, hob sie die Hand, damit er sie ausreden ließ. »Er hat mir auch von der Kreuzigung erzählt. Er sagte, nur wenn er mich tötet, kann er den Mord an seiner Familie vor gut hundert Jahren rächen.«
»Wer hat seine Familie getötet?«, fragte Wilson.
»Du.«
»Das ist unmöglich.«
»Don Eravisto wusste alles, Wilson. Er sagte vorher, dass ich mit dir in Kontakt trete. Er wusste, dass du in der Vergangenheit mit Hiram Bingham hier warst. Er sagte, ich würde dir zu Informationen verhelfen, was ich gerade getan habe. Nach seinen Worten wirst du die Familie eines unbescholtenen Mannes im Schlaf ermorden. Er sagte, dass du entsetzliche Dinge mit diesen Menschen tust, sie auch vergewaltigst.«
Wilson war bestürzt. »Das ist doch lächerlich.«
»Ich weiß das, Wilson. Aber Don Eravisto war absolut davon überzeugt, dass du der Mörder bist und ich deine Komplizin bin. Er wollte mich deswegen erschießen. Du musst dich von jetzt an bewaffnen, damit du dich schützen kannst. Ich kenne dich, du würdest kein Verbrechen begehen. Aber Don Eravisto glaubt, dass du drei unschuldige Menschen auf dem Gewissen hast – die Frau von Lucho Gonzales und ihre beiden kleineren Kinder. Der älteste Sohn blieb am Leben und hat alles mitangesehen.«
»Ich höre zum ersten Mal von einem Lucho Gonzales«, sagte Wilson.
»Er ist Hauptmann und in Cusco stationiert.«
»Warum sollte ich seine Familie töten wollen?«
»Der Inka-Würfel treibt die Leute in den Wahnsinn, Wilson. Das könnte der Grund sein. Du musst vorsichtig sein, wenn du in seine Nähe kommst. Wenn er tatsächlich von Menschen Besitz ergreifen kann, dann wirst du vielleicht keine Kontrolle darüber haben, was passiert.«
Wilson wurde flau im Magen. »Es ist nicht gerade beruhigend, wenn man erfährt, dass man Frauen und Kinder umbringen wird.«
»Du musst achtsam bleiben«, sagte sie ernst. »Das Gute ist, dass wir in der Nähe des Würfels wahrscheinlich miteinander kommunizieren können.« Sie blickte auf die Steinstufe. »Das wird uns vielleicht helfen.«
Wilson überlegte kurz. »Der Lauf der Geschichte ist ziemlich aus der Bahn geraten. Und aus einem unerfindlichen Grund haben sich unsere Welten miteinander verknüpft, so unwahrscheinlich es ist. Sei vorsichtig, Helena. Wenn es deine Aufgabe ist, mir zu helfen, bist du womöglich immer noch in Gefahr.«
38.
C USCO , P ERU K LOSTER
O RTSZEIT : 0.35 U HR 19. J ANUAR 1908
Seine Schritte hallten in dem Gang, als Bischof Francisco auf das unterirdische Verlies zuging. Mit einer Hand umklammerte er einen Messingschlüssel, in der anderen hielt er eine verschnörkelte Sturmlaterne aus Silber mit einem langen Griff. Die schmächtige Flamme beleuchtete die bemoosten Wände und offenbarte die Pfützen am Boden, wo das Regenwasser durch Risse im Mauerwerk eingedrungen war.
Als der Bischof zu einer schweren Holztür gelangte, steckte er den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum. Bei dem klickenden Geräusch begann sein Puls zu rasen. Als er die Tür aufstieß, stach ihm der Gestank von Urin und Exkrementen in die Nase, und er konnte den Brechreiz kaum unterdrücken.
Mit erhobener Lampe blickte er in die kalte Dunkelheit zu der nackten Frau, die mit dem Gesicht zur Wand an den Handgelenken angekettet war. Sie war blau geschlagen und blutete. Leise schloss der Bischof die Tür und drehte den Schlüssel.
»Sie braucht Pflege, wenn sie am Leben bleiben soll«, sagte er ins Dunkel. Er wollte nicht weiter hineingehen und hoffte verzweifelt, dass er sich nicht zu nähern brauchte. »Sie hat seit über einer Woche nichts gegessen, Herr. Wir müssen etwas für sie tun, sonst stirbt sie.«
»Bischof«, erwiderte die tiefe Stimme, »du wirst das Kruzifix aus der Tasche ziehen und es benutzen.«
Dem Bischof brach der Schweiß aus. Er wollte um Gnade flehen, für die Frau und für sich, doch er wusste, es wäre zwecklos. Den Geist Pizarros gelüstete es nach den Schmerzen und der Erniedrigung anderer. Jede Schwäche vergrößerte diese Lust und machte alles noch schlimmer.
Behutsam stellte er die Öllampe auf den Steinboden, zog ein besticktes Taschentuch hervor und tupfte sich den Schweiß vom Gesicht. Während er ganz langsam auf die Gefangene zuging, nahm er das große Kreuz aus der Innentasche seines Gewandes. Zögernd trat er mit dem Kreuz in der Hand durch die Urin- und Blutlachen. Der
Weitere Kostenlose Bücher