Die Vergessenen. Thriller (German Edition)
meine Geschichte nicht einmal so schlimm wie die einiger anderer, die ich nach dem Krieg getroffen habe. Wie muss es denen wohl ergehen?«
»Mussten Sie im Krieg töten?«
»Nein, nein. So war das nicht. Wissen Sie, ich komme aus dem Arbeitermilieu. Mein Vater und seine Freunde waren allesamt Kommunisten und dementsprechend bin ich aufgewachsen, mit Straßenkämpfen vor unserer Haustür in der Neckarstadt. In unmittelbarer Nachbarschaft wurden Menschen abgestochen. Für mich hat sich die Frage, ob ich für oder gegen die Nazis bin, nie gestellt. Als Hitler an die Macht kam, war ich noch ein Kind. Aber selbst in jungen Jahren war mir schon klar, dass man etwas gegen das Unrechtsregime unternehmen muss. Und später plante ich dann tatsächlich einen bewaffneten Überfall in einem Wald. Wenn es hätte sein müssen, hätte ich auch geschossen, das können Sie mir glauben. Aber so weit kam es dann gar nicht.«
»Waren Sie zusammen mit Eugen Kämper in einer Widerstandsgruppe?«
»Ja.«
»Waren Sie bei den Letzten ?«
»Was meinen Sie?«
»Die Gruppe, nannte sie sich Die Letzten ?«
»Nein, wie kommen Sie denn darauf? Wir waren ein lose zusammengewürfelter Haufen und hatten keinen Namen. Nur einmal, als ich Eugen und Klara nach ein paar Jahren in Mannheim noch mal traf, gaben wir uns einen Namen.«
»Klara?«
»Ja, das war eines der beiden Mädchen in unserer Gruppe, ansonsten waren wir nur Jungs.«
»Fahren Sie fort.«
»Als ich die beiden nach dem Krieg traf und wir darüber sprachen, wie wir alle uns entwickelt hatten, welchen Lauf die Dinge in Deutschland genommen hatten und welchen Stellenwert die Aufarbeitung der Gestapogeschichten hatte, nannten wir uns im Spaß Die Vergessenen .«
»Haben Sie noch Kontakt zu anderen Mitgliedern der Gruppe?«
»Nein. Wir kannten uns damals ja nur unter unseren Decknamen. Klara und Eugen habe ich später zufällig im Luisenpark getroffen. Ich glaube, das war erst in den Sechzigerjahren. Ich wusste ihre Namen nicht, aber erkannt habe ich sie sofort. Und sie mich auch. Die beiden waren damals ein Paar. Irgendwann haben sie sich getrennt, weil sie sich sehr heftig wegen irgendeiner Sache gestritten hatten, fragen Sie mich nicht weswegen. Eugen war danach mit den Nerven am Ende. Er wollte mir aber auch nicht erklären, worum es bei ihrem Streit gegangen war. Was aus Klara nach der Trennung geworden ist, weiß ich nicht. Nur mit Eugen hatte ich gelegentlich noch Kontakt. Er hat bald darauf eine andere Frau geheiratet und mit ihr einen Sohn bekommen. Obwohl wir uns in den letzten Jahren nicht mehr gesehen haben, stand meine Adresse wohl noch in seinem Notizbuch, jedenfalls hat sein Sohn mir eine Einladung zur Beerdigung geschickt. Sie haben ihn heute bestimmt auch gesehen.«
»Ja. Ob ihm sein Vater etwas von seiner Zeit im Widerstand erzählt hat?«
»Das glaube ich nicht. Eugen wollte genauso wenig wie ich über diese Sachen reden. Nur mit mir sprach er darüber, weil ich ja dabei gewesen bin.«
»Vielleicht hat er seiner Frau etwas erzählt?«
»Das glaube ich auch nicht. Und selbst wenn, sie war zwar jünger als er, aber sie ist schon vor ein paar Jahren gestorben.«
Kimski atmet tief durch und lehnt sich zurück. »Gibt es sonst jemanden, der Ihre Gruppe Die Letzten genannt haben könnte?«
»Nein. Es wusste ja niemand von uns außer ...« Walter stockt einen Moment, dann setzt er wieder an: »... außer der Gestapo. Als ich verhört wurde, sagte es einer immer wieder, das stimmt. Er sagte immer wieder: Ihr seid die Letzten! «
»Wer hat das gesagt?«
»Na er, der Mann mit der Maske.«
»Und wer ist der Mann mit der Maske?«
»Schulze. SS-Sturmbannführer Schulze.«
23.
Samstag, 17. März 1945
Mannheim
Die Sonne war schon lange untergegangen. Walter zitterte.
Er war sich nicht sicher, ob es die Aufregung war oder ob er sich zu dünn angezogen hatte. Er lud das Gewehr in seiner Hand durch und blickte in die Runde. Auf der kleinen Lichtung mitten im Wald standen zehn Personen, von denen er nur den Decknamen kannte. Alle waren sie in seinem Alter. Keiner von ihnen hatte je eine Schusswaffe benutzt, sah man von dem einen Nachmittag ab, als sie sich vor einer Woche im Viernheimer Wald zu Schießübungen getroffen hatten.
Elf junge Menschen, die sich nicht anders zu helfen wussten, als zur Waffe zu greifen. Dass sie elf an der Zahl waren, beunruhigte ihn, denn bei den Vorbesprechungen waren sie noch zwölf gewesen. Einer von ihnen, der sich Hannibal nannte,
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