Die Vergessenen. Thriller (German Edition)
Den langen Weg hätten Sie sich also sparen können. Begreifen Sie doch, die deutschen Behörden und Unternehmen profitieren von meiner Arbeit. Von daher sollten Sie sich auf das Interesse Ersterer besser nicht verlassen.«
»Mag sein.« Klara musste Luft holen, um weiterzusprechen. »Aber es gibt noch jemanden, der sich noch heute dafür interessiert, was sie im Krieg gemacht haben.«
»Ach so? Wen denn?«
»Mich.«
»Jetzt hören Sie mir mal gut zu!«
Er hatte sich zu ihr gedreht und das smarte Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden. Das Cocktailglas warf er wütend zu Boden, packte sie mit beiden Händen an ihren Armen und starrte sie an. Von einer Sekunde zur nächsten hatte er sich vom Schönling zur Bestie gewandelt.
»Ich scheiße auf das, was Sie interessiert! Verstehen Sie?«
Sie wollte sich losreißen, konnte aber nicht. Seit sie ihn beschattete, spürte sie zum ersten Mal, was es bedeutete, Angst zu haben.Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Dass sie allein in das Haus eines Mörders hineinspazieren konnte und dieser sich seelenruhig anhören würde, was sie gegen ihn vorzubringen hatte?
»Mit Leuten wie Ihnen kenne ich mich aus! Sie suchen sich irgendeinen Schuldigen, wenn sie mit ihrem Leben nicht zurechtkommen. Aber nicht mit mir. Ihr verkorkstes Leben ist mir so was von scheißegal!«
Er verdrehte solange ihren linken Arm, bis sie aufschrie und zusammengekrümmt zu Boden sank. Er drückte sie noch fester nach unten und beugte sich über sie.
»Ihr billiges Leben kann ich ganz schnell auslöschen«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Wenn ich wollte, könnte ich Sie direkt hinter dem Haus im Dreck verbuddeln und es würde kein Schwein interessieren! So ist es doch, oder?«
Klara sagte nichts, schwitzte nur und Tränen stiegen ihr in die Augen.
»Ist es nicht so?«, setzte er nach.
Sie nickte. Nickte, ohne etwas zu sagen oder zu denken.
»Sie weinen ja? So ist es richtig! Heulen Sie sich nur aus. Ihre ganze klägliche Existenz. Gleich ist es vorbei.«
Sie spürte, wie er mit seiner anderen Hand nach ihrem Kleid griff und den Stoff zur Seite schob. Sie wollte schreien, konnte aber nicht. Seine Finger bohrten sich in ihren Slip, rissen ihn zur Seite. Sie sah noch, wie er das Handtuch von seinen Lenden losmachte, und schloss die Augen.
Er war früh zu Bett gegangen, aber der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Was war vorhin am Pool geschehen? Es war furchtbar, was passiert war, aber was hätte er machen sollen? Dieser Schnüfflerin musste eine Lektion erteilt werden, die sie so schnell nicht vergessen würde. Er hatte sie demütigen müssen, damit sie nie wieder bei ihm auftauchen und über diese Begegnung sprechen würde. So weit war sein Handeln richtig gewesen, etwas Besseres hätte ihm auf die Schnelle auch nicht einfallen können. Aber als er über sie herfiel, war etwas Seltsames mit ihm passiert. Er hatte sich selbst gesehen, vielmehr sein Gesicht, zuerst von der Wasseroberfläche gespiegelt und später ein zweites Mal in der Spiegelung der Verandatür, als er zur Seite sah. Es kam ihm vor, als hätte er sich selbst zum ersten Mal wahrgenommen.
War das wirklich er selbst gewesen? Irgendetwas hatte gefehlt, nur was? Erst kurz bevor er von ihr abließ, fiel es ihm ein. Die Maske! Bis dahin hatte er sie immer getragen, wenn er seinen Pflichten nachkam, wenn er Dinge tat, die er eigentlich nicht tun wollte. Die Maske hatte ihm dabei geholfen, sein Leben strikt in zwei Bereiche, zwei Realitäten zu trennen. Jetzt waren erstmals beide Wirklichkeiten aufeinandergeprallt, hatten sich in der Spiegelung seiner Selbst auf der Wasseroberfläche vermischt. Friedrich Schulze und Adelbert Kampowski waren gegeneinander angetreten.
So wie an diesem Abend hatte er sich selbst noch nie gesehen. Und was er erblickt hatte, gefiel ihm nicht. Diese Erkenntnis führte dazu, dass er noch lange über sein Leben nachdachte, über das, was in der Vergangenheit geschehen war, und über die Zeit, die noch vor ihm lag. Es dauerte, bis er endlich in einen tiefen Schlaf fiel. Dies war die Nacht, in der die Albträume begannen.
37.
Donnerstag, 1. Mai
Mannheim
Ausgangspunkt meiner Nachforschungen ist ein Brief, den ich im Frühjahr 2007 durch Zufall im Archiv des Historischen Instituts der Universität Mannheim gefunden habe. Der Poststempel ist auf den 13.07.1977 datiert, das Schreiben wurde in Hamburg aufgegeben. Eine Frau namens Klara Maibaum hat es verfasst. Darin weist sie auf eine
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