Die vergessenen Welten 09 - Brüder des Dunkels
oder einen Feuerball erzeugten.
Oberin Baenre ließ dies alles mehrere Minuten lang geschehen, da sie erkannte, welchen Schrecken es auf dem Anwesen erzeugen mußte, das dem Verderben geweiht war. Sie wollte diesen Augenblick bis zum Letzten auskosten, sie wollte in dem Geruch der Furcht baden, der von dem Anwesen dieser Familie ausging, die sie mehr haßte als alle anderen.
Dann war es an der Zeit zu beginnen – oder genauer: es zu beenden. Baenre wußte, was sie zu tun hatte. Sie hatte es in einer Vision gesehen, und trotz der Zweifel, die Mez'Barris geäußert hatte, als sie ihr davon berichtet hatte, vertraute Baenre auf die Spinnenkönigin, vertraute sie darauf, daß die Vernichtung des Hauses Oblodra Lloths Wille war.
Sie griff in ihre Robe und zog ein Stück Schwefel hervor, denselben gelben Brocken, den der Avatar ihr gegeben hatte, um es den Priesterinnen in dem kleinen Raum auf der Rückseite von Qu'ellarz'orl zu ermöglichen, das Tor zum Abgrund zu öffnen. Baenre stieß ihre Hand gen Himmel und schwebte nach oben. Eine mächtige, krachende Explosion und ein Donnergrollen ließen die Höhle erbeben.
Plötzlich war alles still. Alle Augen waren auf die Erscheinung von Oberin Baenre gerichtet, die zwanzig Fuß über dem Höhlenboden schwebte.
Berg'inyon, der für die Sicherheit seiner Mutter verantwortlich war, blickte mit säuerlicher Miene zu Sos'Umptu hinüber. Er fand, daß seine Mutter dort oben sehr verwundbar war.
Sos'Umptu lachte ihn an. Er war keine Priesterin; er konnte nicht verstehen, daß Oberin Baenre in diesem Augenblick besser beschützt war als zu jedem anderen Zeitpunkt in ihrem langen Leben.
»K'yorl Odran!« rief Baenre, und ihre Stimme klang wie die einer Riesin.
* * *
K'yorl Odran, die sich in einem Raum im obersten Stockwerk des größten Stalagmiten auf dem Anwesen eingeschlossen hatte, hörte Baenres Ruf, hörte ihn laut und deutlich. Ihre Hände umklammerten die marmornen Armlehnen ihres Thrones mit festem Griff. Sie kniff fest die Augen zu und befahl sich intensivste Konzentration.
In diesem Augenblick brauchte K'yorl ihre Kräfte mehr als jemals zuvor, und in diesem Augenblick konnte sie sie das allererste Mal nicht erreichen! Etwas war fürchterlich falsch, erkannte sie, und obgleich sie befürchtete, daß Lloth irgendwie dahinterstecken mußte, spürte sie zugleich, so wie viele Priesterinnen der Spinnenkönigin es während der Zeit der Unruhe verspürt hatten, daß diese Schwierigkeiten von größerer Bedeutung waren als selbst Lloth.
Die Probleme hatten begonnen, kurz nachdem K'yorl von den entfesselten Tanar'ri nach Hause gejagt worden war. Sie und ihre Töchter hatten sich versammelt, um einen Angriffsplan zu erarbeiten, mit dem sie die Unholde vertreiben konnten. Wie bei allen Besprechungen der Oblodraner hatte die Gruppe sich telepathisch verständigt, was so effektiv war, als hielte man mehrere laute Gespräche gleichzeitig.
Der Verteidigungsplan nahm rasch Gestalt an. K'yorl wurde immer zuversichtlicher, daß die Tanar'ri auf ihre eigene Existenzebene zurückgeschickt werden konnten, und sobald dies erreicht war, würden sie und ihre Familie sich daranmachen, Oberin Baenre und die anderen zu bestrafen. Dann war etwas Schreckliches geschehen. Einer der Tanar'ri hatte einen Blitz geschleudert, einen gleißenden, sengenden Strahl, der einen Riß in der äußeren Mauer des Anwesens geöffnet hatte. Das war an sich nicht allzu schlimm; das Anwesen konnte, wie alle Häuser in Menzoberranzan, eine enorme Menge an Schaden überdauern, aber was dieser Blitz, diese Rückkehr der magischen Kräfte, signalisierte, war von vernichtender Bedeutung für die Oblodraner.
Im selben Moment war die telepathische Verbindung abrupt abgebrochen, und sosehr sie sich auch bemühten, die Adligen des belagerten Hauses vermochten nicht, sie wiederherzustellen.
K'yorl war eine der intelligentesten Drow in Menzoberranzan. Ihre Konzentrationsfähigkeit war unerreicht. Sie spürte die psionische Stärke in ihrem Geist, die Kräfte, die es ihr ermöglichten, durch Wände zu gehen oder die Herzen aus der Brust einer Feindin zu reißen. Sie waren tief in ihren Geist eingebettet, immer noch vorhanden, aber sie konnte sie nicht heraufbeschwören. Sie gab sich immer wieder selbst die Schuld, glaubte, ihre Konzentration versage im Angesicht der Katastrophe. Sie schlug sich sogar an den Kopf, als könnte dies eine magische Manifestation aus ihr herausklopfen.
Ihre Bemühungen waren vergebens.
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