Die Vergessenen Welten 12 - Schattenzeit
sei. Plötzlicher Zorn vertrieb seine Tränen, und er packte das Mädchen an den Haaren.
»Hör mir jetzt zu«, sagte er durch zusammengebissene Zähne, »und sperr die Ohren auf. Es ist nicht deine Wahl, die hier entscheidet. Nicht im Geringsten. Du wirst Lord Feringal alles geben, was er will, und noch mehr, und du wirst es mit einem lächelnden Gesicht tun. Deine Mutter ist todkrank, und nur Lord Feringal kann sie noch retten. Ich werde nicht zulassen, dass sie stirbt, nicht wegen deiner Selbstsüchtigkeit.« Er schüttelte sie grob und gab sie dann frei. Sie starrte ihn an, als wäre er ein Fremder, und das war vielleicht das Allerschmerzlichste für den frustrierten Dohni Ganderlay.
»Oder besser noch«, sagte er mit ruhiger Stimme, »ich werde dafür sorgen, dass Jaka Sculi tot auf den Felsen liegt, sein Körper ein Festmahl für die Möwen.«
»Papa …«, protestierte die junge Frau mit einer Stimme, die nur ein bebendes Wispern war.
»Bleib von ihm weg«, befahl Dohni Ganderlay. »Du gehst zu Lord Feringal, und damit Schluss.«
Meralda rührte sich nicht und wischte nicht einmal die Tränen weg, die ihr aus den schönen grünen Augen strömten.
»Wasch dich«, wies Dohni Ganderlay sie an. »Deine Mutter kommt bald heim, und sie soll dich nicht so sehen. Dies sind ihre ganzen Hoffnungen und Träume, Mädchen, und wenn du sie ihr nimmst, bringt sie das mit Sicherheit unter die Erde.«
Damit erhob sich Dohni von dem Bett und ging auf Meralda zu, als wollte er sie umarmen. Als er jedoch die Hände nach ihr ausstreckte, versteifte sie sich auf eine Weise, wie der Mann es noch nie bei ihr erlebt hatte. Er ging an ihr vorbei, und seine herabhängenden Schultern zeugten von seiner Niedergeschlagenheit.
Er ließ sie alleine im Haus zurück und ging dann mit festem Schritt zum Nordwesthang des Berges, zu der felsigen Seite, an der keine Männer arbeiteten, wo er mit seinen Gedanken allein sein konnte. Und mit seiner Verzweiflung.
»Was wirst du tun?«, fragte Tori ihre Schwester, nachdem sie wieder ins Haus geeilt war, sobald ihr Vater außer Sichtweite war. Meralda, die damit beschäftigt war, sich das letzte Blut vom Gesicht zu wischen, antwortete nicht.
»Du solltest mit Jaka davonlaufen«, sagte Tori plötzlich, und ihr Gesicht begann zu leuchten, als hätte sie die perfekte Lösung für alle Probleme der Welt gefunden. Meralda schaute sie zweifelnd an. »Oh, das wäre doch der Gipfel der Liebe«, strahlte das junge Mädchen. »Lord Feringal davonzulaufen. Ich kann nicht glauben, wie Papa dich geschlagen hat.«
Meralda schaute sich in dem silbernen Spiegel erneut ihre Schwellungen an, die eine so deutliche Erinnerung an den schrecklichen Ausbruch waren. Anders als Tori konnte sie es glauben, jedes bisschen davon. Sie war kein Kind mehr, und sie hatte den Schmerz auf dem Gesicht ihres Vaters sogar bemerkt, während er sie schlug. Er hatte Angst, solche Angst, um ihre Mutter, um sie alle.
In diesem Moment erkannte sie, was ihre Pflicht war. Meralda begriff, dass ihre Pflicht ihrer Familie gegenüber wichtiger war als alles andere, und zwar nicht wegen irgendwelcher Drohungen, sondern wegen ihrer Liebe für ihre Mutter, ihren Vater und ihre kleine Schwester. Jetzt, während sie in dem Spiegel ihr zerschundenes Gesicht anstarrte, wurde sich Meralda Ganderlay der Verantwortung bewusst, die man ihren zarten Schultern aufgebürdet hatte, der Gelegenheit, die sich ihrer Familie bot.
Und trotzdem erschauderte sie unwillkürlich, als sie an Lord Feringals Lippen auf den ihren und an seine Hand auf ihrem Busen dachte.
Dohni Ganderlay war sich kaum bewusst, dass die Sonne hinter dem fernen Wasser versank oder dass die Stechmücken, die ihn bewegungslos dasitzend vorgefunden hatten, auf seinen nackten Armen und seinem Hals ein Festmahl feierten. Die Belästigung war bedeutungslos. Wie hatte er sein geliebtes kleines Mädchen schlagen können? Wo war der Zorn hergekommen? Wie hatte er so wütend auf sie werden können, die doch überhaupt nichts Falsches getan hatte, die ihm nicht ungehorsam gewesen war?
Er ließ jene schrecklichen Momente immer wieder und wieder vor seinem geistigen Auge ablaufen. Er sah, wie Meralda, seine schöne, wundervolle Meralda, sich auf den Boden fallen ließ, um sich vor ihm zu verbergen und sich vor seinen wütenden Schlägen zu schützen. Dohni Ganderlay wusste, dass er nicht auf sie wütend gewesen war, dass seine Frustration und sein Ärger sich gegen Lord Feringal richteten.
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