Die vergessliche Mörderin
Sie sah ihn an. »Ich bin unter ein Auto gekommen?«
»Nein, zum Glück nicht, das habe ich verhindert.«
»Sie?«
»Ja, Sie waren mitten auf der Straße, und ein Wagen schoss auf Sie zu. Ich habe Sie gerade noch zurückreißen können. Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht? Einfach so über die Straße zu rennen!«
»Ich kann mich nicht erinnern. Ich – ich muss mit meinen Gedanken woanders gewesen sein…«
»Der Jaguar raste auf Sie zu; auf der anderen Fahrbahn kam ein Bus. Kann es sein, dass der Wagen es auf Sie abgesehen hatte?«
»Ich – nein. Nein. Warum? Ich…«
»Na, es hätte ja immerhin so sein können, oder?«
»Wie meinen Sie das?«
»Dass es Absicht war…«
»Was heißt Absicht?«
»Ehrlich gestanden, habe ich mich gefragt, ob Sie sich absichtlich überfahren lassen wollten. Stimmt das?«, fügte er beiläufig hinzu.
»Ich wollte… Nein, natürlich nicht.«
»Wäre auch eine sehr ungeschickte Methode gewesen.« Sein Tonfall veränderte sich leicht. »Jetzt sagen Sie mal: an irgendetwas müssen Sie sich doch noch erinnern können.«
Wiederum begann sie zu zittern. »Ich dachte… es würde alles vorbei sein. Ich wollte…«
»Dann wollten Sie sich also doch umbringen? Was ist denn los? Mir können Sie’s ruhig sagen. Liebeskummer? Das kann einem schon zusetzen, ich weiß. Außerdem hat man immer die Hoffnung, dass es ihm leidtut, wenn man sich seinetwegen das Leben nimmt, aber darauf sollte man sich besser nicht verlassen. Schuldbewusstsein kann kein Mensch ertragen. Erinnern Sie sich an meine goldenen Worte, wenn Sie wieder mal Ihre Kräfte mit einem Jaguar messen wollen. Auch Jaguare haben eine Seele. Und was ist nun los? Hat Ihr Freund Sie sitzen lassen?«
»Nein«, sagte Norma. »Nein, ganz im Gegenteil. Er wollte mich heiraten.«
»Das ist kein Grund, sich gleich vor ein Auto zu werfen.«
»Doch. Das ist es, ich wollte es, weil…« Sie verstummte.
»Wie wär’s, wenn Sie mir alles hübsch der Reihe nach erzählen?«
»Wie bin ich hierher gekommen?«, fragte Norma.
»Ich habe Sie in ein Taxi verfrachtet. Sie hatten offenbar keine Verletzungen. Na, ein paar blaue Flecken werden Sie wohl kriegen. Aber Sie waren so erschreckt und außer sich vor Angst, dass Sie mir nicht mal Ihre Adresse sagen konnten, als ich Sie danach fragte. Um uns herum blieben alle Leute stehen. Da habe ich das nächste Taxi genommen und Sie erst mal hierher gebracht.«
»Ist das eine – eine Arztpraxis?«
»Ja, das ist das Behandlungszimmer, und ich bin der Arzt. Ich heiße Stillingfleet.«
»Ich will zu keinem Arzt! Ich sage kein Wort mehr! Nicht zu einem Arzt!«
»Na, immer mit der Ruhe. Sie reden ja schon seit zehn Minuten mit einem Arzt. Was haben Sie denn gegen Ärzte?«
»Ich habe Angst. Ich habe Angst, ein Arzt könnte…«
»Meine liebe junge Dame, Sie konsultieren mich ja nicht beruflich. Betrachten Sie mich als einen Außenstehenden, der Sie lediglich vor dem Tod bewahrt hat, wahrscheinlich aber nur vor einem Arm- oder Beinbruch, einer Schädelverletzung oder irgendetwas anderem Unerfreulichem. Sie hätten Ihr Leben zum Beispiel im Rollstuhl verbringen können. Wenn ich nicht da gewesen wäre, hätte man Sie wegen Selbstmordversuchs vor Gericht stellen können. So, jetzt habe ich Ihnen ehrlich die Meinung gesagt. Vielleicht revanchieren Sie sich und sagen mir, warum Sie Angst vor Ärzten haben. Was hat Ihnen ein Arzt angetan?«
»Nichts. Angetan hat mir keiner was. Aber ich habe Angst, sie könnten mich…«
»Was könnten die Ärzte?«
»Mich einsperren.«
Dr. Stillingfleet zog die rötlichen Brauen hoch und sah sie an. »Was haben Sie für komische Vorstellungen von Ärzten? Warum sollte ich Sie einsperren wollen? – Möchten Sie Tee? Oder halten Sie mehr von LSD, Preludin oder einem Beruhigungsmittel? Darauf stehen die jungen Leute Ihres Alters ja wohl. Sie haben das alles auch schon durchprobiert, was?«
Norma schüttelte den Kopf. »Nein – nicht richtig.«
»Das nehme ich Ihnen nicht ab. Aber warum die ganze Aufregung und Verzweiflung? Sie sind doch nicht geisteskrank, oder etwa doch? Ich würde das Gegenteil behaupten. Ärzte haben’s gar nicht so eilig mit dem Einsperren. Die Kliniken sind sowieso schon überfüllt. Man kriegt kaum jemand mehr rein. In letzter Zeit musste man sogar Leute entlassen – und zwar Hals über Kopf –, die besser dringeblieben wären… Na, wie steht’s? Wollen Sie lieber was aus dem Giftschrank oder eine Tasse guten, altmodischen
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