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Die vergessliche Mörderin

Die vergessliche Mörderin

Titel: Die vergessliche Mörderin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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englischen Tee?«
    »Tee bitte«, sagte Norma.
    Er ging zur Tür, riss sie auf und rief: »Annie! Eine Kanne Tee für zwei Personen!« Dann setzte er sich wieder. »Nun wollen wir erst mal etwas klarstellen, Miss… Wie heißen Sie überhaupt?«
    »Norma Rest…« Sie verstummte.
    »Wie?«
    »Norma West.«
    »Also, Miss West, damit wir uns richtig verstehen: Ich bin nicht Ihr Arzt, und Sie sind nicht meine Patientin. Sie haben einen Verkehrsunfall gehabt – bei der Bezeichnung wollen wir bleiben, und wahrscheinlich hatten Sie es ja auch so geplant. Für den Mann im Jaguar hätte das übrigens böse Folgen haben können.«
    »Erst wollte ich mich auch von einer Brücke runterstürzen.«
    »So? Das wäre bestimmt nicht leicht geworden. Die Brückenbauer denken heutzutage einfach an alles. Sie hätten erst auf das Geländer klettern müssen, und inzwischen wäre längst ein Lebensretter aufgetaucht. Aber jetzt weiter im Text: Ich habe Sie mit zu mir genommen, weil Sie sich in Ihrem Schock nicht an Ihre Adresse erinnern konnten. Wo wohnen Sie übrigens?«
    »Ich wohne nirgends…«
    »Interessant! Die Polizei nennt das ›ohne festen Wohnsitz‹. Wie machen Sie das? Übernachten Sie auf Parkbänken?«
    Sie warf ihm einen argwöhnischen Blick zu.
    »Ich hätte den Unfall der Polizei melden können, bin aber nicht verpflichtet dazu. Ich stelle mich auf den Standpunkt, dass Sie in mädchenhafter Verträumtheit über die Straße gewandelt sind, ohne links und rechts zu sehen.«
    »Ich habe mir Ärzte immer ganz anders vorgestellt…«
    »Ach nein? Ich habe mittlerweile sämtliche Illusionen über meinen Beruf verloren. Übrigens löse ich meine Praxis gerade auf und gehe in vierzehn Tagen nach Australien. Sie sind also absolut sicher bei mir. Wenn Sie wollen, können Sie mir ruhig erzählen, dass rosa Elefanten die Wände hochkrabbeln oder Bäume ihre Äste nach Ihnen ausstrecken, um Sie festzuhalten und zu erwürgen, oder was Sie sonst noch Fröhliches auf Lager haben. Keinen Finger werde ich rühren! Sie sehen aber ganz normal aus, wenn ich das sagen darf.«
    »Ich glaube nicht, dass ich es bin.«
    »Mag sein, dass Sie Recht haben«, sagte Dr. Stillingfleet entgegenkommend. »Lassen Sie mich mal Ihre Gründe hören.«
    »Ich tue Dinge, an die ich mich nicht erinnern kann… Ich erzähle den Leuten, was ich getan habe, aber ich erinnere mich nicht, es ihnen erzählt zu haben…«
    »Das klingt, als hätten Sie ein schlechtes Gewissen.«
    »Sie verstehen mich nicht. Es dreht sich um – um schreckliche Dinge.«
    »Religiöser Wahn? Hochinteressant.«
    »Es hat nichts mit Religion zu tun, sondern mit – Hass.«
    Es klopfte. Eine ältere Frau brachte ein Tablett und stellte es auf den Schreibtisch.
    »Zucker?«, fragte Dr. Stillingfleet.
    »Ja, bitte.«
    »Sie sind ein vernünftiges Kind. Zucker ist immer gut bei einem Schock.« Er schenkte Tee ein und schob ihr die Tasse hin. »So. Wovon sprachen wir? Ach ja, vom Hass.«
    »Ist es möglich, dass man jemand so sehr hasst, dass man ihn umbringen möchte?«
    »Aber ja«, sagte Stillingfleet gleich bleibend gut gelaunt. »Und ob das möglich ist! Aber selbst wenn Sie es wirklich wollen, schaffen Sie es dann im letzten Moment doch nicht. Die Natur hat den Menschen eine Art Bremssystem verliehen, das genau im richtigen Augenblick zu funktionieren beginnt.«
    »Das klingt so, als wäre es etwas ganz Alltägliches.« Eine gewisse Verärgerung sprach aus Normas Stimme.
    »Ja, es ist auch völlig natürlich. Bei Kindern kommt es jeden Tag vor. Sie fahren aus der Haut und sagen zu ihren Müttern oder Vätern: ›Du bist gemein, ich hasse dich! Wenn du doch tot wärst!‹ Als Erwachsener hasst man immer noch manche Leute, aber es ist ein bisschen mühsam, sie alle gleich umbringen zu wollen. Und falls Sie es trotzdem tun – na, dann landen Sie eben im Gefängnis. Sagen Sie, Sie ziehen doch hier keine große Schau ab, oder?«
    »Natürlich nicht.« Norma richtete sich auf und funkelte ihn wütend an. »Natürlich nicht! Glauben Sie etwa, ich würde so etwas Schreckliches sagen, wenn es nicht stimmte?«
    »Ach, wissen Sie, auch das passiert, dass Menschen die schrecklichsten Dinge von sich erzählen und das sehr genießen.« Er nahm ihr die leere Tasse ab. »So und jetzt sollten Sie mal auspacken. Wen hassen Sie, warum, und was wollen Sie ihm oder ihr antun?«
    »Aus Liebe kann Hass werden.«
    »Au! Das klingt aber melodramatisch! Übrigens kann umgekehrt auch Hass zu Liebe werden. Um

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