Die vergessliche Mörderin
Aal winden? Kannst du nicht stillhalten?«
»Nein, ich kann nicht mehr. Das ist eine blöde Stellung.«
»Ich habe ein Experiment gemacht«, sagte Mrs Oliver. »Ich habe versucht, jemand zu beschatten. Es ist viel schwerer, als ich dachte. Sagen Sie, ist das ein Maleratelier?« Sie blickte sich neugierig um.
»Ja, so sehen die heutzutage aus. Nichts als ein Dachboden. Und wenn Sie nicht durch die Decke brechen, haben Sie Glück.«
»Aber es ist alles da, was man braucht.« David mischte sich ein. »Gutes Nordlicht, viel Platz, eine Schlafgelegenheit, ein Viertel Teilhaberschaft am Klo im Untergeschoss und eine Kochmöglichkeit. Und was zu trinken gibt’s auch.« Er wandte sich mit vollendeter Höflichkeit an Mrs Oliver: »Was dürfen wir Ihnen anbieten?«
»Ich trinke keinen Alkohol.«
»Die Dame trinkt nicht«, sagte David. »Wer hätte das gedacht!«
»Jetzt machen Sie sich über mich lustig, aber Sie haben sogar Recht. Die meisten Leute halten mich für eine Quartalssäuferin.« Sie klappte die Handtasche auf – drei lange graue Haarlocken fielen heraus. David hob sie auf und überreichte sie ihr.
»Oh, danke. Ich war heute Morgen so eilig. Vielleicht habe ich noch ein paar Haarnadeln.« Sie fischte in der Handtasche danach und begann, die Locken an ihrem Kopf festzustecken.
Peter brüllte vor Lachen: »Eins zu null für Sie!«
Und davor habe ich nun Angst gehabt, dachte Mrs Oliver überrascht, Angst – vor diesen netten jungen Leuten: Es stimmt schon: ich habe viel zu viel Fantasie.
Bald darauf verabschiedete sie sich und wurde von David mit geradezu altmodischer Höflichkeit die steile Treppe hinuntergeleitet. Er beschrieb ihr den nächsten Weg zur King’s Road.
»Dort«, sagte er abschließend, »können Sie den Bus nehmen oder ein Taxi.«
»Ein Taxi«, seufzte Mrs Oliver. »Ich kann kaum mehr auf den Füßen stehen. Ich brauche dringend ein Taxi. Übrigens vielen Dank, dass Sie die Beschattung nicht übel genommen haben. Das war sehr nett von Ihnen. Aber ich glaube auch wirklich nicht, dass ich wie ein Privatdetektiv oder ein Schleicher, oder wie die nun heißen, aussehe.«
»Nein, wohl kaum«, bestätigte David ernst. »Also, erst links, dann rechts, bis Sie den Fluss sehen, dann wieder scharf rechts und geradeaus.«
Merkwürdigerweise überkam sie das Gefühl des Unbehagens sofort wieder, als sie den Hof überquerte. Sie drehte sich noch einmal zur Treppe und dem Atelierfenster um. David blickte ihr nach. »Drei reizende junge Leute«, sagte Mrs Oliver vor sich hin. »Ausgesprochen nett und liebenswürdig. Jetzt links, und dann rechts. Nur weil sie so merkwürdig aussehen, bildet man sich ein, sie könnten gefährlich werden. Jetzt wieder nach rechts? Oder links? Und jetzt regnet’s auch noch!« Der Weg nahm kein Ende, und die King’s Road schien kilometerweit entfernt. Nicht mal der Verkehrslärm war noch zu hören. Und wo war der Fluss geblieben? Allmählich fürchtete sie, sich verirrt zu haben.
Müde bog Mrs Oliver um die nächste Ecke – jetzt sah sie das schwache Glitzern der Wasserfläche vor sich. Sie eilte durch eine schmale Durchfahrt, hörte hinter sich Schritte, wollte sich gerade umdrehen – und bekam einen Schlag über den Kopf, der die Welt in sprühende Funken auflöste.
10
E ine Stimme sagte: »Trinken Sie!«
Norma zitterte. Ihre Augen waren glasig. Sie verkroch sich tiefer in den Sessel. Der Befehl wurde wiederholt: »Trinken Sie!« Diesmal trank sie gehorsam, dann musste sie husten.
»Das ist – schrecklich stark«, keuchte sie.
»Es wird Ihnen gut tun. In einer Minute fühlen Sie sich besser. Bleiben Sie ganz still sitzen.«
Ihr war schlecht gewesen und schwindlig, jetzt gab sich das allmählich. Ihre Wangen bekamen wieder Farbe und das Zittern ließ nach. Zum ersten Mal sah sie sich um. Angst und Entsetzen hatten sie geschüttelt, aber nun beruhigte sie sich etwas. Der mittelgroße Raum und das Mobiliar erweckten unbestimmte Erinnerungen: ein Schreibtisch, eine Couch, ein Sessel, ein Stuhl, auf einem Tisch ein Stethoskop und ein Apparat, der wohl etwas mit Augenuntersuchungen zu tun hatte. Ihr Blick wanderte zu dem Mann, der ihr befohlen hatte zu trinken. Er war ungefähr dreißig, rothaarig und von einer faszinierenden Hässlichkeit. Er nickte ihr beruhigend zu.
»Na, bekrabbeln Sie sich wieder?«
»Ich – ja, ich glaube. Ich – Sie haben… Was war los?«
»Erinnern Sie sich nicht mehr?«
»Doch. Die Autos… Sie kamen plötzlich auf mich zu.«
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