Die vergessliche Mörderin
mit Grandezza vor ihr auf. »Au revoir, Mademoiselle.«
Sie sah ihn noch einmal argwöhnisch an, dann schritt sie schnell davon und warf von Zeit zu Zeit einen Blick über die Schulter. Poirot blieb auf der Türschwelle stehen, machte aber keine Anstalten, ihr zu folgen. Als sie außer Sicht war, kehrte er ins Café zurück.
Die Kellnerin kam ihm schon missgelaunt entgegen. Er setzte sich wieder an den Tisch und bestellte eine Tasse Kaffee, um sie zu besänftigen. »Merkwürdig«, murmelte er vor sich hin, »ja, das ist sehr, sehr merkwürdig.«
Eine Tasse mit blassem hellbraunen Inhalt wurde vor ihn hingestellt. Er nahm einen Schluck und schnitt eine Grimasse.
Er hätte zu gern gewusst, wo sich Mrs Oliver gerade befand.
9
M rs Oliver saß in einem Bus, etwas außer Atem, sonst aber von ungebrochenem Jagdfieber erfüllt. Der Pfau, wie sie ihn insgeheim nannte, hatte sie ganz schön in Trab gehalten. Auf dem Embankment musste sie in etwa zwanzig Meter Abstand hinter ihm herhasten. In Charing Cross nahm er die U-Bahn. Mrs Oliver ebenfalls. Er fuhr bis Sloane Quare. Mrs Oliver auch. In der Schlange an der Bus-Haltestelle wartete sie hinter ihm. Er stieg in World’s End aus. Mrs Oliver tat es ihm nach. Dann tauchte er in ein unübersichtliches Gewirr kleiner Straßen zwischen der King’s Road und der Themse. Er bog in einen Hof ein, der zu einer Baufirma zu gehören schien. Mrs Oliver beobachtete ihn von einem Hauseingang. Er verschwand hinter einem Torbogen. Mrs Oliver gab ihm einige Sekunden Vorsprung und folgte dann – er war von der Bildfläche verschwunden.
Sie machte sich auf die Suche und verlor bald jeden Orientierungssinn. Plötzlich fand sie sich wieder auf dem Hof der Baufirma und schreckte zusammen, als hinter ihr eine höfliche Stimme sagte: »Hoffentlich bin ich nicht zu schnell für Sie gegangen?«
Sie fuhr herum. Da stand er – eine drohende Gestalt mit starken, grausamen Händen… Sie wusste genau, dass er erwog, ob er diese Hände gebrauchen sollte… Der Pfau! Ein eitler Pfau in Samt und eleganten, schwarzen, engen Hosen, mit einer leisen, ironischen Stimme, in der verborgener Zorn mitschwang… Mrs Oliver holte hastig ein paar Mal Luft, fasste blitzschnell einen Entschluss und ging zur Verteidigung über. Sie ließ sich entschlossen auf einer Mülltonne nieder, die unmittelbar neben ihr an der Mauer lehnte.
»Meine Güte, haben Sie mich erschreckt!«, sagte sie atemlos. »Ich habe Sie überhaupt nicht gesehen. Hoffentlich sind Sie mir nicht böse.«
»Dann sind Sie mir also gefolgt?«
»Ja, leider. Sicher bin ich Ihnen sehr lästig geworden, aber wissen Sie, es war eine so günstige Gelegenheit! Sie ärgern sich bestimmt furchtbar über mich, aber das brauchen Sie nicht, wirklich nicht. Wissen Sie – « Mrs Oliver setzte sich bequemer auf der Mülltonne zurecht, »wissen Sie, ich schreibe nämlich Bücher, Kriminalromane. Heute Morgen war ich an einem toten Punkt angelangt und habe mich in ein Café gesetzt, um mir was auszuknobeln. Ich bin nämlich gerade an einer Stelle, wo ich jemand beschatte. Nicht ich natürlich, sondern mein Held. Und dabei ging mir auf, dass ich nicht weiß, wie man das macht. Ich müsste es eben mal selbst ausprobieren, dachte ich mir, denn wenn man etwas nicht kennt, kann man es auch nicht beschreiben. Und in dem Augenblick habe ich Sie in dem Café am Nebentisch entdeckt, und ich fand – jetzt dürfen Sie mir aber nicht schon wieder böse sein! –, dass Sie sich besonders gut für eine Beschattung eignen müssten.«
Immer noch starrte er sie aus diesen merkwürdig kalten blauen Augen an, aber sie spürte, dass die Wut verraucht war.
»Warum bin ich besonders gut geeignet?«
»Weil Sie so dekorativ sind«, erklärte Mrs Oliver treuherzig. »Sie sind so hübsch angezogen – fast stilechtes Regency. Und Sie sind so leicht von den anderen zu unterscheiden, deswegen dachte ich, dass es bei Ihnen leichter sein würde, und deswegen bin ich Ihnen auch nachgegangen, als Sie das Café verließen. Aber es war gar nicht so einfach. Sagen Sie, haben Sie die ganze Zeit gewusst, dass ich hinter Ihnen herrannte?«
»Nein, nicht gleich.«
»Aha«, sagte Mrs Oliver nachdenklich. »Aber ich bin ja auch viel weniger auffällig. Ich meine, für Sie sehe ich wie alle anderen älteren Frauen aus. Ich bin doch unauffällig, nicht wahr?«
»Schreiben Sie Bücher, die auch gedruckt werden? Kann ich was von Ihnen gelesen haben?«
»Das weiß ich nicht. Vielleicht. Ich
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