Die vergessliche Mörderin
würden – aber ich muss gestehen, dass mir Normas Reaktionen nicht normal erschienen. Ich dachte dann, dass es gut wäre, wenn sie in London arbeitete und nur an den Wochenenden nachhause käme. Ach, ich habe alles falsch gemacht. Wo ist sie bloß, Monsieur Poirot? Kann es sein, dass sie das Gedächtnis verloren hat?«
»Möglich. Und wenn, dann irrt sie vielleicht herum, ohne zu wissen, wer sie ist. Oder sie hat einen Unfall gehabt, was ich allerdings für unwahrscheinlich halte. Ich habe mich bereits bei allen Krankenhäusern erkundigt.«
»Aber Sie glauben nicht, dass sie – tot sein könnte?«
»Nein, dann würde man sie nämlich viel schneller finden. Bitte, beruhigen Sie sich, Mr Restarick. Sie kann doch Freunde haben, von denen Sie nichts wissen. Freunde, die in einer anderen Gegend Englands wohnen, die sie von früher, von ihrer Mutter, ihrer Tante oder aus der Schulzeit kennt. Es dauert einige Zeit, bis man das überprüft hat. Sie kann auch – darüber dürfen Sie sich keine Illusionen machen – bei einem jungen Mann sein.«
»David Baker? Meine Güte, wenn…«
»Bei David Baker ist sie nicht. Das habe ich als Erstes festgestellt.«
»Woher soll ich ihre Freunde auch kennen?« Er seufzte. »Wenn ich sie finde, verkaufe ich den ganzen Laden hier und gehe mit ihr in ein Land, in dem man leben kann.«
»Und was wird Ihre Frau dazu sagen?«
»Mary? Die ist an dieses Herumzigeunern gewöhnt.«
»Für Frauen mit Geld kann London sehr reizvoll sein«, meinte Poirot.
»Oh, sie versteht mich.«
Das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte. Restarick nahm den Hörer ab. »Ja? Aus Manchester? Ja. Wenn es Miss Reece-Holland ist, stellen Sie bitte durch.« Er wartete einen Augenblick. »Hallo, Claudia? Sprechen Sie bitte lauter, ich kann Sie kaum verstehen. Sie haben zugestimmt?… Ach, schade… Nein. Das haben Sie ganz richtig gemacht… Ja, einverstanden… Gut. Kommen Sie heute mit dem Abendzug zurück? Na, dann besprechen wir morgen alles weitere.« Er legte auf. »Ein tüchtiges Mädchen!«
»Miss Reece-Holland?«
»Ja. Ungewöhnlich tüchtig. Sie nimmt mir viel Arbeit ab. Ich habe ihr bei dem Abschluss in Manchester völlig freie Hand gelassen. Ich kann mich im Moment einfach nicht aufs Geschäft konzentrieren. Sie hat es glänzend gemacht. Sie verhandelt fast wie ein Mann.«
Plötzlich war er wieder bei der Sache. »Tut mir leid, Monsieur Poirot, ich bin vom Thema abgeschweift. Brauchen Sie noch Geld?«
»Nein, Monsieur. Ich versichere Ihnen, dass ich alles tun werde, Ihre Tochter heil und gesund zurückzubringen.«
Wieder auf der Straße, legte er den Kopf in den Nacken, blickte in den Himmel und murmelte:
»Eine klare Antwort auf eine Frage. Das ist alles, was ich brauche.«
20
H ercule Poirot betrachtete die Fassade des alten Hauses in einer stillen Kleinstadtstraße. Der Messingklopfer an der Tür war blank poliert. Poirot nickte anerkennend und drückte auf den Klingelknopf.
Unmittelbar darauf öffnete ihm eine hoch gewachsene grauhaarige Dame mit klaren, energischen Zügen.
»Monsieur Poirot? Sie sind sehr pünktlich. Kommen Sie herein.«
»Miss Battersby?«
»Natürlich.« Sie hielt ihm die Tür auf, nahm ihm den Hut ab und legte ihn auf eine Garderobe in der Diele. Dann führte sie ihn in ein freundliches Zimmer, von dem aus man in einen kleinen, von einer Mauer umgebenen Garten sah.
Sie deutete auf einen Sessel und setzte sich ihm gegenüber. Miss Battersby hatte offenbar nicht vor, mit konventionellen Floskeln Zeit zu verschwenden.
»Sie sind die frühere Direktorin der Meadowfield-Schule?«
»Ja. Ich bin vor einem Jahr pensioniert worden. Sie wollten mich wegen Norma Restarick sprechen, nicht wahr?«
»Ja.«
»In Ihrem Brief sind Sie nicht auf Einzelheiten eingegangen.«
Miss Battersby maß ihn prüfend. »Ich weiß, wer Sie sind, Monsieur Poirot. Daher wäre es mir lieb, genauer zu erfahren, worum es sich eigentlich handelt. Haben Sie vielleicht vor, Norma Restarick zu engagieren?«
»Nein, keineswegs.«
»Da ich Ihren Beruf kenne, werden Sie verstehen, wenn ich Sie um nähere Auskünfte bitte. Haben Sie ein Empfehlungsschreiben von Normas Angehörigen?«
»Ich muss schon wieder verneinen«, sagte Poirot, »aber lassen Sie mich das erklären.«
»Ja, bitte.«
»Ich bin im Auftrag von Miss Restaricks Vater hier, von Mr Andrew Restarick.«
»Aber Sie haben keinen Brief von ihm?«
»Ich habe ihn nicht darum gebeten.«
Miss Battersby sah ihn fragend an.
»Ich
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