Die verlorene Bibliothek: Thriller
ihren Füßen entfernt lag ihr Blackberry. Plötzlich konnte Emily nur noch an Michael denken. Während des Überfalls hatte sie zwar versucht zu ignorieren, dass ihr Angreifer auch Michael bedroht hatte, doch nun bekam sie den Gedanken nicht mehr aus dem Kopf. Sie musste ihn erreichen, ihn warnen, ihn irgendwie in Sicherheit bringen.
Emily streckte die Hand nach dem Handy aus, und ein stechender Schmerz schoss durch ihren Körper. Schließlich hatte sie es jedoch in der Hand, lehnte sich wieder zurück und schaute es sich an. Das Display war dunkel und in der Mitte zerbrochen. Emilys Herz setzte bei dem Gedanken einen Schlag lang aus, Michael nicht mehr rechtzeitig erreichen zu können. Sie drückte den Einschaltknopf und hoffte auf das Beste, doch das Ding war definitiv kaputt.
Verdammt , fluchte sie und hob wieder die Hand an den Kopf. Sie trug noch immer den Pferdeschwanz, den sie sich vor dem Palast gebunden hatte, und vermutlich hatte der dem Schlag einen Teil seiner Wucht genommen. Der Schmerz war zwar fürchterlich, aber sie ertastete keine gebrochenen Knochen.
Außerdem war der wirkliche Schlag vielmehr, dass die Männer ihr die Informationen und ihre Besitztümer abgenommen hatten. Jetzt haben sie alles , dachte sie. Mehr brauchen sie nicht. Emily war sicher, dass die Angreifer zu diesem Rat gehörten, den Athanasius ihr so lebhaft beschrieben hatte, und jetzt wussten sie alles, was sie wissen wollten. Ihre Effizienz war beeindruckend und Furcht erregend zugleich. Sie waren nahezu perfekt in dem, was sie taten.
Und Emily hatte gerade zugelassen, dass sie sich den letzten, entscheidenden Hinweis schnappten, den sie brauchten, um die Bibliothek zu finden. Sie schämte sich und fühlte sich schuldig.
Bald sind sie in Oxford, und dann gehört ihnen alles. Die Jagd ist vorbei. Der Kreis schließt sich.
Emily stutzte. Da war dieses Wort schon wieder: der Kreis . Es hatte sich schon falsch angefühlt, als sie während der Flucht über Arnos letzten Hinweis nachgedacht hatte, und es fühlte sich auch jetzt falsch an. ›Der Kreis schließt sich: Oxfords göttliche Decke und Heim der Bibliothek.‹ Kreise, im Kreis laufen, im Kreis denken … Emily rappelte sich unter Schmerzen auf, als die wahre Frage sich in ihr Hirn brannte. Warum trieb sie dieses eine Wort so um?
Komm schon, Arno. Du versuchst, mir etwas zu sagen. Aber was?
Die Hinweise, die Holmstrand auf ihrer Reise für sie hinterlassen hatte, hatten Emily davon überzeugt, auch diesen letzten aus jedem möglichen Blickwinkel zu untersuchen. Wenn ihr irgendetwas komisch vorkam, dann war das ein Zeichen dafür, dass Arno noch etwas anderes in der Spur versteckt hatte … Etwas, das Emily noch nicht erkannt hatte.
Sie lehnte sich an die Mülltonnen eines Geschäfts in der Nähe und schloss die Augen. Sie wusste, dass sie sich möglichst rasch an einen belebteren Ort begeben sollte, doch der Schmerz lähmte sie. Emily atmete mehrmals tief durch, um den Schmerz unter Kontrolle zu bringen, und ging noch mal alles durch, was sie über Arno Holmstrand wusste, seine Arbeit und sein Vermächtnis. Und sie rief sich alles ins Gedächtnis zurück, was sie den Mann je hatte sagen hören.
Was ich ihn habe sagen hören … Emily blieb an dem Gedanken hängen. Der seltsame Hinweis passte einfach nicht zu etwas, was Arno einmal gesagt hatte.
Was genau war das noch mal?
Schließlich erinnerte sie sich an die ersten Worte, die sie je aus Arnos Mund gehört hatte. Die ersten Worte seiner Antrittsvorlesung am Carleton College.
» Wissen dreht sich nicht im Kreis, Ignoranz aber schon. Wissen gründet im Alten, doch deutet stets zum Neuen .«
Diesen Gedanken hatte der alte Professor auch bei anderen Gelegenheiten immer wieder betont, und jetzt sprach er in seinem letzten Hinweis ausgerechnet von einem solchen sinnlosen Kreis, also genau von dem, was er selbst immer so verabscheut hatte.
Das war eine Schlussfolgerung, die Arno Holmstrand nie gezogen hätte.
Und plötzlich wusste Emily eines ganz genau: Die Bibliothek von Alexandria befand sich nicht in Oxford.
KAPITEL VIERUNDNEUNZIG
22:25 U HR
Zwanzig Minuten später klingelte es bei Michael in Chicago. Emily hatte sich ein billiges Prepaidhandy bei einem Straßenhändler gekauft, und die Nummer, die sie gerade gewählt hatte, kannte sie auswendig. Sie hatte die lange Zahlenfolge eingegeben, die Wahltaste gedrückt und das Handy ans Ohr gehoben. Zwei kurze Klingeltöne später nahm Michal Torrance auf der anderen
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