Die verlorene Bibliothek: Thriller
uralte Organisation überhaupt existierte, ihr einziges Ziel, und das wusste jeder. Der Sekretär ließ den Mann ausreden, bevor er erklärte:
»Gentlemen, das höchste Ziel ist noch immer erreichbar.« Er hielt kurz inne und genoss das faszinierte Schweigen seiner Kollegen. Er hatte seine eigene Autorität noch nie so stark empfunden wie in diesem Augenblick. »Der Bewahrer hat noch mit seinem letzten Atemzug versucht, etwas vor mir zu verbergen. Vor uns. Etwas, das mehr ist als nur die Fähigkeit, die Spieler in unserem aktuellen Drama zu enthüllen. In den letzten Augenblicken seines Lebens hat er noch einmal versucht, uns zu täuschen und uns von unserem großen Ziel fernzuhalten.« Seine Finger strichen über das großformatige Buch, das der Freund ihm gebracht hatte. Ein simpler Band, wie man ihn sich gern auf den Couchtisch legt, war plötzlich zu einem wertvollen Besitz geworden: ein frisches Exemplar von Prests Illustrierter Geschichte der Universität Oxford.
Und in diesem Exemplar waren noch alle Seiten vorhanden.
»Gentlemen, im Angesicht des Todes begehen selbst unsere würdigsten Feinde Fehler. Das letzte Täuschungsmanöver des Bewahrers ist gescheitert.« Er starrte die digitalisierten Gesichter der Ratsmitglieder der Reihe nach an.
»Dieses Land ist nicht genug. Auch die Bibliothek wird uns gehören. Gentlemen, das Rennen ist noch lange nicht entschieden.«
Der Sekretär beendete die Videokonferenz mit einem Tastendruck und drehte sich zu dem Mann in den Schatten links von ihm herum.
»Es ist an der Zeit, dass Sie nach Oxford gehen.«
KAPITEL EINUNDZWANZIG
M INNESOTA – 15:00 U HR CST
»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen dafür bin«, sagte Emily und schaute zum Fahrersitz des geräumigen Mazda. Vor ein paar Stunden war sie schüchtern in das Büro von Aileen Merrin gegangen und hatte sie gefragt, ob sie sie wohl schnell zum Flughafen fahren könne. Ursprünglich hatte Emily geplant, ihren Wagen für den kurzen Besuch bei Michael in Chicago am Flughafen unterzustellen, doch nun, da sich ihre Pläne so dramatisch geändert hatten, musste sie für neue Arrangements sorgen. Schließlich hatte sie keine Ahnung, wie lange sie in England bleiben würde.
»Kein Problem«, erwiderte Aileen. »Ich habe heute keine Vorlesungen mehr, und um ehrlich zu sein, bin ich nach allem, was passiert ist, auch ganz froh, mal rauszukommen.« Sie lächelte, doch ihren haselnussbraunen Augen war die Anspannung deutlich anzusehen.
»Haben Sie ihn gut gekannt?«, fragte Emily, die wusste, dass Aileen Holmstrands Ermordung härter getroffen hatte als die meisten anderen.
»Eigentlich nicht besser als alle anderen auch«, antwortete Aileen. »Natürlich kannte ich seinen Ruf schon seit Jahren. Aber wirklich kennengelernt habe ich ihn erst, als er zu uns gekommen ist. Er war ein …« Sie suchte nach dem richtigen Wort. »Er war ein spektakulärer Mann.« Sie wurde nachdenklich, und als sie sich zu Emily umdrehte, war ihr Ausdruck sanft und fürsorglich. »Wissen Sie, Sie und er, Sie sind sich recht ähnlich.«
Emily konnte sich einen unpassenderen Vergleich kaum vorstellen.
»Wie denn das? Wir beide waren Welten voneinander entfernt.« Emily konnte sich in akademischen Kreisen zwar behaupten, aber sie wusste auch, wo ihre Grenzen lagen.
»Nun, Sie sind jung«, erwiderte Aileen, »und Arno nicht. Er hatte den Höhepunkt seiner Karriere schon lange hinter sich. Ich denke, zumindest dafür können wir dankbar sein.«
Emily schwieg und ließ Aileen ein wenig Zeit für ihre Gefühle.
»Aber Sie beide hatten so viele gemeinsame Interessen und ähnliche Herangehensweisen«, fuhr die ältere Frau fort, richtete sich gerade auf und versuchte, ihre Fassung wiederzuerlangen. »Ich erinnere mich noch gut an Ihre Bewerbung. Das Lehrerfieber hatte sie schon früh erwischt, genau wie Arno. Wie alt waren Sie, als Sie zum ersten Mal daran gedacht haben, Lehrer oder Professor zu werden? Zehn? Fünfzehn?«
»Ja, das stimmt«, bestätigte Emily. »Ich habe diesen Weg schon seit langer Zeit verfolgt.« Sie hatte nicht gewusst, dass Holmstrand einen ähnlichen Hintergrund gehabt hatte. So lange sie denken konnte, hatte Emily ein Lehramt gewollt. Als Schülerin im ländlichen Ohio hatten die Grundschullehrer sie inspiriert. Sie hatte die Naturwissenschaften geliebt, weil ihr Lehrer im dritten Schuljahr Naturwissenschaften geliebt hatte, und sie hatte Kunst geliebt, weil ihr Lehrer im fünften Schuljahr ihr gezeigt
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