Die verlorene Bibliothek: Thriller
sich ein wenig um. Aber trödeln Sie nicht. Ich nehme an, irgendwann wird man uns hier rausschmeißen.«
Wexler bog rechts ab und hielt direkt auf seine Kollegen zu, während Emily weiter zur Kirche marschierte. Die Schäden, die schon aus der Ferne verheerend ausgesehen hatten, waren aus der Nähe betrachtet noch viel schlimmer. Mannshohe Steinblöcke lagen in seltsamen Winkeln aufeinander und darunter zerschmetterte Wasserspeier und Heiligenfiguren. Emily blieb an einer Statue stehen. Offensichtlich handelte es sich dabei um einen Engel, der jahrhundertelang aus luftiger Höhe auf die Stadt hinabgeblickt hatte. Nun war er in zwei Teile zerbrochen. Der Anblick war überwältigend. Emily stand inmitten von Historie, als wären ihre Lehrbücher und all die alten Dokumente plötzlich zum Leben erwacht. Der Bau dieser Kirche hatte für das Lernen im Okzident einen Wendepunkt markiert. Hier waren Vorlesungen zu einigen der größten Fortschritte in der Geschichte der Wissenschaft gehalten worden, und die Reformation hatte ebenso ihren Tribut hier gefordert wie die Inquisition.
Und nun stand Emily als eine der Ersten hier, die die Zerstörung dieses einmaligen Ortes begutachteten.
Emily kämpfte gegen das Verlangen an, sich der Nostalgie hinzugeben. Sie war aus einem ganz bestimmten Grund hier, und dieser Grund verlangte nach ihrer vollen Aufmerksamkeit. Sie versuchte, den Eindruck zu erwecken, als hätte sie jedes Recht, hier zu sein, und schlich um das Westende des Gebäudes herum, das an die High Street grenzte. Diese Seite war am wenigsten beschädigt worden, und Emily ging vorbei an der uniformierten Wache durch die Tür und in die Kirche hinein. Dabei achtete sie sorgfältig darauf, den Mann nicht anzuschauen. Augenkontakt hätte nur Fragen provoziert, und Emily war nicht sicher, ob sie genauso gut improvisieren konnte wie Wexler.
Im Inneren waren fast so viele Ermittler, wie Emily schon draußen gesehen hatte. So gut es ging, versuchte sie, das investigative Verhalten der anderen nachzuahmen, während sie sich selbst umsah. Das berühmte Buntglasfenster mit dem Jessebaum hatte die Detonation auf wundersame Weise unbeschadet überlebt; tatsächlich war dieser gesamte Bereich noch in bemerkenswert gutem Zustand. Emily schaute durch das Kirchenschiff zur anderen Seite. Dort schien auch alles in Ordnung zu sein. Die Mitte des 15. Jahrhunderts neu gebaute Kanzel sowie das Chorgestühl aus derselben Zeit standen noch genauso da, wie Emily sich aus ihren Studententagen an sie erinnerte.
Das lange Schiff dazwischen hatte jedoch die volle Wucht der Explosion und deren Folgen abbekommen. Das Dach war zerborsten, und die Wand, die einst den Turm gestützt hatte, war nur noch ein einziger großer Trümmerhaufen. Die kleine Kapelle, die nach Adam de Brone benannt war, dem Rektor der Kirche aus dem 14. Jahrhundert und Gründer des Oriel College, war vollkommen zerstört.
Obwohl sie sich nach besten Kräften bemühte, sich zurückzuhalten, rief der Anblick bei der Historikerin in Emily blankes Entsetzen hervor. Das hier war die Kirche, in der Kardinal Newman gepredigt hatte, bevor er vom anglikanischen zum römisch-katholischen Glauben konvertiert war; die Kirche, in der John Wesley, der Begründer der Methodisten, gegen den Filz und die religiöse Indifferenz der Fakultät gewettert hatte; die Kirche, in der die Reformation auf englischem Boden zum ersten Mal auf die Probe gestellt worden war, als hier gegen Latimer, Ridley und Cranmer Recht gesprochen worden war – zwei Bischöfe und ein Erzbischof, die schlussendlich auf dem Scheiterhaufen gelandet und verbrannt worden waren, weil sie sich geweigert hatten, zum katholischen Glauben der neuen Königin überzutreten. Emily betrachtete sich weder als Katholikin noch als Methodistin oder als Protestantin; doch dieses Gebäude, das nun zerstört vor ihr lag, war der Mittelpunkt von Ereignissen gewesen, die die moderne Welt mitgeprägt hatten.
Und vielleicht würde es das erneut sein, falls sich hier tatsächlich eine Verbindung zu der verlorenen Bibliothek zu Alexandria befand. Dieser Gedanke, den Emily vor noch nicht einmal einer Stunde als Fantasterei abgetan hätte, kam ihr nun gar nicht mehr so lächerlich vor. Die Zerstörung hier war mit Absicht herbeigeführt worden und stand ganz offensichtlich in Verbindung zum Tod von Arno Holmstrand.
Emily durchquerte das südliche Kirchenschiff, ging zu den Trümmern im Zentrum und murmelte dabei Arnos rätselhafte Hinweise vor
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