Die verlorene Bibliothek: Thriller
sich hin: Zu beten zwischen zwei Königinnen . In einer Kirche, die der Jungfrau Maria geweiht war, der Königin des Himmels, musste es doch Statuen oder Gemälde der himmlischen Patronin geben.
Emily ließ ihren Blick über das Trümmerfeld in der Mitte der Kirche schweifen. Wenn es hier war, dann ist es jetzt weg. Und sollte eine Statue den Einschlag des riesigen Turms überlebt haben, dann würde es Wochen dauern, bis sie geborgen wurde. Die Ereignisse der letzten zwei Tage hatten Emily jedoch davon überzeugt, dass sie nicht so viel Zeit hatte.
Sie schaute den Weg zurück, den sie gekommen war. Sie hatte definitiv kein Bildnis übersehen, und auch in den nicht zerstörten Fenstern sprang ihr nichts ins Auge. Emily reckte den Hals und staunte nicht zum ersten Mal in ihrem Leben über die Pracht des großen Westfensters. Selbst die Zerstörung um es herum vermochte nicht von seiner Schönheit abzulenken. Es stellte jene große Vision des Propheten Jesaja dar, in der er Christi Geburt aus dem ›Baum Jesse‹ prophezeite, hervorgegangen aus dem Geschlecht Davids. Das Fenster stellte die Vision wörtlich dar. Die Äste eines atemberaubendes Baumes erstreckten sich über seine ganze Breite, und auf jedem Ast waren die Bilder von Königen, Propheten, Patriarchen und Ahnen. Und in der Mitte, quasi als Erfüllung der Vision, prangte ein Bild von Christus selbst, wie er von seiner Mutter in den Armen gehalten wurde.
Emily konzentrierte sich auf die Mitte des Bildes. In den Armen seiner Mutter lag das Christuskind auf Marias Knien wie auf einem Thron, und Maria trug das Gewand einer Königin.
Zu beten zwischen zwei Königinnen.
Emilys Atem ging immer schneller. Sie suchte die umliegenden Darstellungen nach einem weiteren Bild der Heiligen Jungfrau ab. Hatte Kempe das Symbol vielleicht persönlich zwischen zwei Darstellungen von Maria eingebaut? War der Pfad, auf den Arno sie geführt hatte, wirklich schon so alt?
Emilys Blick wanderte mehrmals über das Buntglasfenster, doch sie konnte kein zweites Marienbild finden. Das zweite muss irgendwo anders in der Kirche sein , dachte sie. Das, so sinnierte sie, würde auch weit mehr Sinn ergeben, als des Rätsels Lösung nur in einem einzigen Bild zu verstecken.
Finde ein weiteres Bild von Maria und den Raum dazwischen. Emily erweiterte ihre Suche. Die umliegenden Wände gaben jedoch nichts her, und sie verließ der Mut, als ihr Blick noch einmal zu dem mit Trümmern gefüllten Mittelteil wanderte. Dann schaute sie an der Kanzel vorbei zu dem Gestühl dahinter. Francesco Bassanos Gemälde der Anbetung durch die Hirten stand noch immer über dem Altar an der Ostmauer. Tapfer hatte es der Explosion getrotzt.
Darüber standen sieben Statuen, und eine davon erregte Emilys Aufmerksamkeit.
Zu beten zwischen zwei Königinnen. An beiden Enden der Kirche stand jeweils das gleiche Bild der Jungfrau Maria im Mittelpunkt, das eine aus Glas, das andere aus Stein. Arnos Hinweis, das kleine Symbol der Bibliothek, musste sich also genau zwischen den beiden Bildern befinden, im Zentrum der Kirche …
… und begraben unter Tonnen von Schutt.
KAPITEL ACHTUNDDREISSIG
O XFORD – 15:50 U HR GMT
Als Emily ein paar Augenblicke später die Kirche wieder verließ, machte sie ein säuerliches Gesicht. Und als sie durch die schmale Gasse ging, die unter dem Namen Catte Street bekannt war, war ihr egal, ob die Polizei sie nun erwischte und rauswarf oder nicht. Nun war klar, dass der Hinweis, den zu finden Arno Holmstrand ihr aufgetragen hatte, nicht mehr zu finden war. Arno hatte geschrieben, dass auch andere nach diesem Wissen suchten, und offenbar waren sie zuerst hier gewesen und hatten ihre Spuren auf dramatische Art verwischt. Emily hatte keine Ahnung, ob es Wochen oder Monate dauern würde, den Schutt in der Kirchenmitte zu entfernen, und ob das Gesuchte dann noch intakt geblieben war.
Sie ließ ihren Blick noch einmal über das Gelände schweifen und fand Wexler, der sicherlich erleichtert war, sie außerhalb des Gebäudes zu sehen. Rasch verabschiedete er sich von den Männern, bei denen er stand, nickte Emily zu, und beide liefen auf die andere Seite der Absperrung. Sie gingen zu Kyle, der noch immer gedankenverloren auf seiner Bank hockte. Erst dann trauten sie sich, wieder miteinander zu sprechen.
»Ich hatte schon Angst, dass man meinen kleinen Trick gleich durchschauen würde«, sagte Wexler. Hoffnungsvoll schaute er zu Emily. »Und? Ich nehme doch an, ich habe mir die Mühe
Weitere Kostenlose Bücher