Die verlorene Bibliothek: Thriller
RAB , A LEXANDRIA , Ä GYPTEN – 8:56 U HR ( GMT +2)
Die Räder des Jets der Turkish Airlines setzten mit nur einer Minute Verspätung auf. Am Horizont ging die Sonne auf, und die Kälte der Nacht wich der Hitze des Tages, die hier selbst im November herrschte.
Binnen einer Stunde saß Emily in einem Taxi und fuhr in Richtung Stadtzentrum. Während der Fahrt reckte sie den Hals zum Fenster in der Hoffnung, einen besseren Blick auf die Stadt in der Ferne zu erhaschen. Während der Landung hatte sie nur wenig davon gesehen, und nun, da sie nur noch wenige Meilen von der Stadt entfernt war, die sie seit ihrer Kindheit studiert hatte, wich die Furcht, die sie die letzten paar Stunden empfunden hatte, dem vertrauten Gefühl von Abenteuer.
Dort drüben lag Alexandria, die Stadt Alexanders des Großen. Seit Alexander sie im frühen 4. Jahrhundert v. Chr. zu seinen eigenen Ehren gegründet hatte, war sie eine der berühmtesten Städte der Welt, obwohl sie seit dem 7. Jahrhundert n. Chr. rasch an Bedeutung verloren hatte. Hier hatte der Leuchtturm von Pharos sein Licht als eines der sieben Weltwunder über die Bucht geworfen und die Schiffe in das berühmteste Handels- und Wissenschaftszentrum der Antike geleitet. Am Westrand des Nildeltas gelegen war die ›Perle des Mittelmeers‹, wie die Stadt von alters her genannt wurde, stets von großer wirtschaftlicher und militärischer Bedeutung gewesen. Heute war sie vor allem als Touristenziel bekannt, doch sie beherbergte auch den größten Seehafen des Landes, wodurch sie sich ihre alte Bedeutung als Handelszentrum zumindest teilweise bewahrt hatte.
Alexandria war das Herz dreier Reiche gewesen und der wichtigste ökonomische wie intellektuelle Knotenpunkt von mindestens fünf unterschiedlichen Kulturen. Das alte Pharaonenreich, das in seinen letzten Jahrhunderten von den griechischen Ptolemäern regiert wurde, war über Jahrtausende hinweg von großer Bedeutung gewesen, und in den letzten Jahrhunderten vor Christus war es zum Zentrum der jüdischen Diaspora geworden. Nirgends lebten so viele Israeliten wie hier. Dann, in den Jahren nach dem Übertritt des Reiches zum Christentum, war Alexandria zur Hauptstadt christlichen Lernens geworden. Sie hatte einige der größten Bischöfe und Kirchenväter hervorgebracht und auch einige der geschmacklosesten Häresien. So war das Konzil von Nicäa, das erste ökumenische Konzil, auf dem das christliche Glaubensbekenntnis formuliert wurde, als Reaktion auf eine Häresie zusammengetreten, die ihren Ursprung in dieser Stadt gehabt und sich rasch in der gesamten christlichen Welt verbreitet hatte.
Alexandrias Ruhm als christliche Stadt sollte Jahrhunderte überdauern, war jedoch nicht für die Ewigkeit. Im 7. Jahrhundert wurde die Stadt von den Muslimen erobert und in Folge davon das Herz eines neuen, islamischen Nordafrika, auch wenn die Eroberer rasch ihre eigene Stadt gegründet hatten, um ihr Konkurrenz zu machen. Aus dieser neuen Stadt war später Kairo hervorgegangen, heute die berühmtere, wenn auch jüngere Cousine Alexandrias.
Emily war beeindruckt von der Stadt, die nun in Sichtweite kam. Viele antike Kulturzentren hatten ihre Bedeutung im Laufe der Geschichte verloren, doch für gewöhnlich verschwanden sie dann auch ganz. Alexandria wehrte sich jedoch dagegen und beanspruchte sein Erbe für sich. Größe lag am Horizont, und die Stadt beabsichtigte, sie für sich zu beanspruchen.
Und dieser Geist hatte das Stadtbild verändert. Es war eine moderne Metropole entstanden, eine strahlende Bereicherung der Kultur des Kontinents. Und sie hatten eine neue Bibliothek gebaut. Doch bevor Emily weiter darüber nachdenken konnte, wurde das Taxi langsamer und schob sich um eine sanfte Kurve auf einen kleinen Platz. Vor ihr erhob sich das unverkennbare Gebäude, für das sie hergekommen war.
Und in seinen Gewölben saß ein Mann und wartete geduldig auf ihre Ankunft.
KAPITEL DREIUNDFÜNFZIG
10:25 U HR
Emily stieg entschlossen aus dem Taxi. Sie war nur leicht erschöpft von der Reise, und der Glaube, auf dem richtigen Weg zu sein, verlieh ihr neue Kraft. Vor ihr erhob sich die Granitfassade der Bibliothek. Sie strahlte weiß im Licht der Morgensonne. Den Portikus des modernen Gebildes zierten Statuen der alten ägyptischen Götter und Könige und schlugen so eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Emily musste zugeben, dass das Design funktionierte. Der Anblick, der sich ihr bot, war überwältigend, ja sogar
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