Die verlorene Ehre der Katharina Blum
der anonyme Anrufer, die anonyme Post – und dann noch
die ZEITUNG vom Samstag und außerdem (hier wird vorgegriffen!) die
SONNTAGSZEITUNG. Sind solche Spekulationen nicht überflüssig: Sie hat
den Mord geplant und ausgeführt – und damit basta! Gewiß ist, daß sich in
ihr etwas »gesteigert hat« – daß die Äußerungen ihres ehemaligen Ehemanns
sie besonders aufgebracht haben, und ganz gewiß ist, daß alles, was dann in
der SONNTAGSZEITUNG stand, wenn nicht auslösend, so doch keineswegs
beruhigend gewirkt haben kann.
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Heinrich Böll
Die verlorene Ehre der Katharina Blum
37.
Bevor der Rückstau endgültig als beendet betrachtet werden und wieder
auf Samstag geblendet werden kann, muß nur noch über den Verlauf des
Freitagabends und der Nacht von Freitag auf Samstag bei Frau Woltersheim
berichtet werden. Gesamtergebnis: überraschend friedlich. Ablenkungsversuche
von Konrad Beiters, der Tanzmusik auflegte, südamerikanische sogar, und
Katharina zum Tanzen bewegen wollte, scheiterten zwar, es scheiterte auch der
Versuch, Katharina von der ZEITUNG und ihrer anonymen Post zu trennen; was
ebenfalls scheiterte, war der Versuch, das alles als nicht so schrecklich wichtig
und vorübergehend darzustellen. Hatte man nicht Schlimmeres überstanden:
das Elend der Kindheit, die Ehe mit diesem miesen Brettloh, die Trunksucht
und »milde ausgedrückt Verkommenheit von Mutter, die ja letzten Endes doch
auch für Kurts Straucheln verantwortlich ist«. War Götten nicht zunächst in
Sicherheit und sein Versprechen, sie zu holen, ernst zu nehmen? War nicht
Karneval, und war man nicht finanziell gesichert? Gabs nicht so furchtbar nette
Leute wie die Blornas, die Hiepertz, und war nicht auch der »eitle Fatzke« – man
scheute sich immer noch, den Herrenbesuch beim Namen zu nennen – im
Grunde eine belustigende und keineswegs eine bedrückende Erscheinung? Da
widersprach Katharina und verwies auf den »idiotischen Ring und den affigen
Briefumschlag«, die sie beide fürchterlich in die Klemme gebracht und sogar
Ludwig in Verdacht gebracht hätten. Hatte sie wissen können, daß dieser Fatzke
sich seine Eitelkeit so viel würde kosten lassen? Nein, nein, belustigend fand sie
den nun gar nicht. Nein. Als man praktische Dinge besprach – etwa, ob sie denn
eine neue Wohnung suchen und ob man nicht schon überlegen solle, wo —, wich
Katharina aus und sagte, das einzig praktische, was sie vorhabe, wäre, sich ein
Karnevalskostüm zu machen, und sie bat Else leihweise um ein großes Bettuch,
denn sie habe vor, angesichts der Scheichmode selbst am Samstag oder Sonntag
als Beduinenfrau »loszuziehen«. Was ist denn eigentlich Schlimmes passiert? Fast
nichts, wenn man es genau betrachtet, oder besser gesagt: fast nur Positives, denn
immerhin hat Katharina den, »der da kommen sollte«, wirklich getroffen, hat mit
ihm »eine Liebesnacht verbracht«, nun gut, sie ist verhört bzw. vernommen
worden, und offenbar ist Ludwig wirklich »kein Schmetterlingsfänger«. Dann
hat es den üblichen Dreck in der ZEITUNG gegeben, ein paar Säue haben
anonym angerufen, andere haben anonym geschrieben. Geht denn das Leben
nicht weiter? Ist Ludwig nicht bestens – und wie nur sie, sie ganz allein weiß,
geradezu komfortabel untergebracht? Jetzt nähen wir ein Karnevalskostüm, in
dem Katharina entzückend aussehen wird, einen weißen Frauenburnus; hübsch
wird sie darin »losziehen«.
Schließlich verlangt sogar die Natur ihr Recht, und man schläft ein, nickt
ein, erwacht wieder, nickt wie – der ein. Trinkt man schließlich ein Gläschen
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miteinander? Warum nicht? Ein durch und durch friedliches Bild: eine junge
Frau, die über einer Näharbeit eingenickt ist, während eine ältere Frau und ein
älterer Mann sich vorsichtig um sie herumbewegen, damit »die Natur ihr Recht
bekommt«. Die Natur bekommt so sehr recht, daß Katharina nicht einmal vom
Telefon, das gegen zweieinhalb Uhr früh klingelt, geweckt wird. Wieso fangen
plötzlich der nüchternen Frau Woltersheim die Hände an zu flattern, wenn sie
den Telefonhörer ergreift? Erwartet sie anonyme Zärtlichkeiten, wie sie sie ein
paar Stunden vorher erfahren hat? Natürlich ist zweieinhalb Uhr morgens eine
bange Zeit zum Telefonieren, aber sie ergreift den Hörer, den ihr Beiters sofort
aus der Hand nimmt, und als er »Ja?« sagt, wird sofort wieder aufgelegt. Und
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