Die verlorene Ehre der Katharina Blum
werden, obwohl es unglaubwürdig klingt) als Scheich verkleideter
Herr, der sich in offensichtlicher Distanzierungsqual in die Ecke drückte, zum
Glück aber schon im vierten Stock ausstieg, und eine (es klingt verrückt, aber
was wahr ist, ist wahr) als Andalusierin verkleidete Dame, die, durch eine
Gesichtsmaske gedeckt, keineswegs von Katharina abrückte, sondern direkt
neben ihr stehenblieb und sie aus »frechen, harten, braunen Augen« dreist und
neugierig musterte. Sie fuhr über den achten Stock hinaus.
Zur Warnung: es kommt noch schlimmer. Endlich in ihrer Wohnung, bei
deren Betreten sich Katharina regelrecht an Beiters und Frau W. anklammerte,
klingelte das Telefon, und hier war Frau W. schneller als Katharina, sie rannte los,
nahm den Hörer ab, man sah ihren entsetzten Gesichtsausdruck, sah sie bleich
werden, hörte sie »Sie verdammte Sau, Sie verdammte feige Sau« murmeln, und
klugerweise legte sie den Hörer nicht wieder auf, sondern neben die Gabel.
Vergeblich versuchten Frau W. und Beiters gemeinsam, Katharina ihre Post
zu entreißen, sie hielt den Packen Briefe und Drucksachen fest umklammert,
zusammen mit den beiden Ausgaben der ZEITUNG, die sie ebenfalls ihrer
Tasche entnommen hatte, und bestand darauf, die Briefschaften zu öffnen. Es
war nichts zu machen. Sie las das alles!
Es war nicht alles anonym. Ein nicht anonymer Brief – der umfangreichste
— kam von einem Unternehmen, das sich Intim-Versandhaus nannte und ihr
alle möglichen Sex-Artikel anbot. Das war für Katharinas Gemüt schon ziemlich
starker Tobak, schlimmer noch, daß jemand handschriftlich dazugeschrieben
hatte: » Das sind die wahren Zärtlichkeiten«. Um es kurz, oder noch besser:
statistisch zu machen: von den weiteren achtzehn Briefschaften waren
sieben anonyme Postkarten, handschriftlich mit »derben« sexuellen Offerten,
die alle irgendwie das Wort »Kommunistensau« verwendet hatten
vier weitere anonyme Postkarten enthielten politische Beschimpfungen ohne
sexuelle Offerten. Es ging von »roter Wühlmaus« bis »Kreml-Tante«
fünf Briefe enthielten Ausschnitte aus der ZEITUNG, die zum größeren Teil,
etwa drei bis vier – mit roter Tinte am Rand kommentiert waren, u. a. folgenden
Inhalts: »Was Stalin nicht geschafft hat, Du wirst es auch nicht schaffen«
zwei Briefe enthielten religiöse Ermahnungen, in beiden Fällen auf beigelegte
Traktate geschrieben »Du mußt wieder beten lernen, armes, verlorenes Kind«
und »knie nieder und bekenne, Gott hat dich noch nicht aufgegeben«.
Und erst in diesem Augenblick entdeckte Else W. einen unter die Tür
geschobenen Zettel, den sie zum Glück tatsächlich vor Katharina verbergen
konnte: »Warum machst du keinen Gebrauch von meinem Zärtlichkeitskatalog?
Muß ich dich zu deinem Glück zwingen? Dein Nachbar, den du so schnöde
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Heinrich Böll
Die verlorene Ehre der Katharina Blum
abgewiesen hast. Ich warne dich.« Das war in Druckschrift geschrieben, an der
Else W. akademische, wenn nicht ärztliche Bildung zu erkennen glaubte.
35.
Es ist schon erstaunlich, daß weder Frau W. noch Konrad B. erstaunt waren, als
sie nun, ohne an irgendeine Form des Eingreifens zu denken, beobachteten, wie
Katharina an die kleine Hausbar in ihrem Wohnraum ging, je eine Flasche Sherry,
Whisky, Rotwein und eine angebrochene Flasche Kirschsirup herausnahm
und ohne sonderliche Erregung gegen die makellosen Wände warf, wo sie
zerschellten, zerflossen.
Das gleiche machte sie in ihrer kleinen Küche, wo sie Tomatenketchup,
Salatsauce, Essig, Worcestersauce zum gleichen Zweck benutzte. Muß
hinzugefügt werden, daß sie gleiches in ihrem Badezimmer mit Cremetuben,
-flaschen, Puder, Pulvern, Badeingredienzien – und in ihrem Schlafzimmer mit
einem Flacon Kölnisch Wasser tat?
Dabei wirkte sie planvoll, keineswegs erregt, so überzeugt und überzeugend,
daß Else W. und Konrad B. nichts unternahmen.
36.
Es hat natürlich ziemlich viele eorien gegeben, die den Zeitpunkt
herauszuanalysieren versuchten, an dem Katharina die ersten Mordabsichten
faßte oder den Mordplan ausdachte und sich dazu entschloß, ihn auszuführen.
Manche denken, daß schon der erste Artikel am Donnerstag in der ZEITUNG
genügt habe, wieder andere halten den Freitag für den entscheidenden Tag, weil
an diesem Tag die ZEITUNG immer noch keinen Frieden gab und Katharinas
Nachbarschaft und Wohnung, an der sie so hing, sich als (subjektiv jedenfalls)
zerstört erwies;
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