Die verlorene Ehre der Katharina Blum
Trude, wisse doch, daß jeder,
nicht nur Männer, mal so Anwandlungen hätten, einfach mal jemand so in den
Arm zu nehmen und vielleicht mehr – aber Katharina, nein, es war da etwas,
das ihn nie, niemals zum Herrenbesuch bei ihr gemacht hätte, und wenn ihn
etwas gehindert habe, ja es ihm unmöglich gemacht habe, zum Herrenbesuch
zu werden – oder besser gesagt: das zu versuchen –, so wäre es nicht, und sie
wisse, wie er das meine, nicht der Respekt vor ihr und die Rücksichtnahme auf
sie, Trude, gewesen, sondern Respekt vor Katharina, ja, Respekt, fast Ehrfurcht,
mehr, liebevolle Ehrfurcht vor ihrer, ja verdammt, Unschuld – und mehr, mehr
als Unschuld, für das er keinen Ausdruck finde. Es sei wohl dieses merkwürdige,
herzliche Kühle an Katharina und – obwohl er fünfzehn Jahre älter sei als
Katharina und es weiß Gott im Leben zu was gebracht habe – wie Katharina
ihr verkorkstes Leben angepackt, geplant, organisiert habe – das habe ihn, hätte
er überhaupt je Gedanken dieser Art gehabt, gehindert, weil er Angst gehabt
habe, sie oder ihr Leben zu zerstören – denn sie sei so verletzlich, so verdammt
verletzlich, und er würde, wenn sich herausstellen sollte, daß Alois wirklich
der Herrenbesuch gewesen sei, er würde ihm – schlicht gesagt – einen »in die
Fresse hauen«; ja, man müsse ihr helfen, helfen, sie sei diesen Tricks, diesen
Verhören, diesen Vernehmungen nicht gewachsen – und nun sei es zu spät und
er müsse, müsse im Laufe des Tages Katharina auf treiben … aber hier wurde
er in seinen aufschlußreichen Meditationen unterbrochen, weil Trude mit
ihrer unvergleichlichen Trockenheit feststellte: »Der Herrenbesuch ist soeben
vorgefahren.«
39.
Es soll hier gleich festgestellt werden, daß Blorna Sträubleder, der da tatsächlich in
einem bombastischen Mietwagen vorgefahren war, nicht in die Fresse schlug. Es
soll hier nicht nur möglichst wenig Blut fließen, auch die Darstellung körperlicher
Gewalt soll, wenn sie schon nicht vermieden werden kann, auf jenes Minimum
beschränkt werden, das die Pflicht der Berichterstattung auferlegt. Das bedeutet
nicht, daß es nun etwa gemütlicher wurde bei den Blornas, im Gegenteil: es
wurde noch ungemütlicher, denn Trude B. konnte sich nicht verkneifen, den
50
51
Heinrich Böll
Die verlorene Ehre der Katharina Blum
alten Freund, während sie weiterhin in ihrer Kaffeetasse rührte, mit den Worten
zu begrüßen »Hallo Herrenbesuch«. »Ich nehme an«, sagte Blorna verlegen,
»Trude hat mal wieder den Nagel auf den Kopf getroffen.« »Ja«, sagte Sträubleder,
»fragt sich nur, ob das immer taktvoll ist.«
Es kann hier festgestellt werden, daß es zu fast unerträglichen Spannungen
zwischen Frau Blorna und Alois Sträubleder gekommen war, als jener einmal sie
nicht gerade verführen, aber doch erheblich mit ihr flirten wollte und sie ihm
– auf ihre trockene Art zu verstehen gab, daß er sich für unwiderstehlich halte,
es aber nicht sei, jedenfalls für sie nicht. Unter diesen Umständen wird man
verstehen, daß Blorna Sträuble – der sofort in sein Arbeitszimmer führte und
seine Frau bat, sie allein zu lassen und in der Zwischenzeit (»Zeit zwischen was?«
fragte Frau Blorna) alles, alles zu tun, um Katharina aufzutreiben.
40.
Warum kommt einem plötzlich sein eigenes Arbeitszimmer so scheußlich vor,
fast durcheinander und schmutzig, obwohl kein Stäubchen zu entdecken ist
und alles am rechten Platz? Was macht die roten Ledersessel, in denen man
so manches gute Geschäft abgewickelt und so manches vertrauliche Gespräch
geführt hat, in denen man wirklich bequem sitzen und Musik hören kann,
plötzlich so widerwärtig, sogar die Bücherregale ekelhaft und den handsignierten
Chagall an der Wand geradezu verdächtig, als wäre es eine vom Künstler selbst
ausgeführte Fälschung? Aschenbecher, Feuerzeug, Whiskyflacon – was hat man
gegen diese harmlosen, wenn auch kostspieligen Gegenstände? Was macht einen
so ungemütlichen Tag nach einer äußerst ungemütlichen Nacht so unerträglich
und die Spannung zwischen alten Freunden so stark, daß die Funken fast
überspringen? Was hat man gegen die Wände, die, sanftgelb rauhfaserüberpinselt,
mit moderner, mit Gegenwartsgraphik geschmückt sind?
»Ja, ja«, sagte Alois Sträubleder, »ich bin eigentlich nur gekommen, um
dir zu sagen, daß ich in dieser Sache deine Hilfe nicht mehr brauche. Du hast
mal wie der die Nerven
Weitere Kostenlose Bücher
Eis und Dampf: Eine Steampunk-Anthologie (German Edition) Online Lesen
von
Mike Krzywik-Groß
,
Torsten Exter
,
Stefan Holzhauer
,
Henning Mützlitz
,
Christian Lange
,
Stefan Schweikert
,
Judith C. Vogt
,
André Wiesler
,
Ann-Kathrin Karschnick
,
Eevie Demirtel
,
Marcus Rauchfuß
,
Christian Vogt