Die verlorene Ehre der Katharina Blum
es
klingelt wieder, und wieder wird, sobald er aufgenommen, noch bevor er »Ja?«
gesagt hat, aufgelegt. Natürlich gibt es auch Leute, die einem den Nerv töten
wollen, seitdem sie aus der ZEITUNG erfahren haben, wie man heißt und wo
man wohnt, und es ist besser, den Hörer nicht mehr aufzulegen.
Und da hat man sich vorgenommen, Katharina wenigstens vor der
Samstagsausgabe der ZEITUNG zu bewahren, sie aber hat ein paar
Augenblicke wahrgenommen, in denen Else W. eingeschlafen ist und Konrad
B. sich im Badezimmer rasiert, ist auf die Straße geschlichen, wo sie in der
Morgendämmerung den ersten besten ZEITUNGSkasten aufgerissen und
eine Art Sakrileg begangen hat, denn sie hat das VERTRAUEN der ZEITUNG
mißbraucht, indem sie eine ZEITUNG herausnahm, ohne zu bezahlen! In diesem
Augenblick kann der Rückstau für vorläufig beendet erklärt werden, denn es ist
genau um die Zeit, in der die Blornas an eben diesem Samstag zerknittert, gereizt
und traurig aus dem Nachtzug steigen und die gleiche Ausgabe der ZEITUNG
erwischen, die sie später zu Hause studieren werden.
38.
Bei Blornas ist ein ungemütlicher Samstagmorgen, äußerst ungemütlich, nicht
nur wegen der fast schlaflosen, zerrüttelten und verschüttelten Nacht im
Schlafwagen, nicht nur wegen der ZEITUNG, von der Frau Blorna sagte, diese
Pest verfolge einen in die ganze Welt, nirgendwo sei man sicher; ungemütlich
nicht nur wegen der vorwurfsvollen Telegramme einflußreicher Freunde und
Geschäftsfreunde, von der »Lüstra«, auch Hachs wegen, den man zu früh,
einfach zu früh (und auch wieder zu spät, wenn man bedachte, daß man ihn
besser schon am Donnerstag angerufen hätte) am Tage anrief. Er war nicht
sehr freundlich, sagte, die Vernehmung von Katharina sei abgeschlossen, er
könne nicht sagen, ob ein Verfahren gegen sie eröffnet würde, im Augenblick
48
49
Heinrich Böll
Die verlorene Ehre der Katharina Blum
bedürfe sie sicher des Beistands, aber noch nicht eines Rechtsbeistandes. Hatte
man vergessen, daß Karneval war und auch Staatsanwälte ein Recht auf einen
Feierabend und gelegentliche Feiern haben? Nun, immerhin kennt man sich
schon seit Jahren, hat miteinander studiert, gepaukt, Lieder gesungen, sogar
Wanderungen gemacht, und da nimmt man die ersten Minuten schlechter Laune
nicht so wichtig, zumal man selbst sich so äußerst ungemütlich fühlt, aber dann
– und das von einem Staatsanwalt – die Bitte, weiteres doch lieber mündlich
und nicht gerade fernmündlich zu besprechen. Ja, belastet sei sie, manches
sei äußerst unklar, aber nicht mehr, vielleicht später am Nachmittag mündlich.
Wo? In der Stadt. Ambulierenderweise am besten. Im Foyer des Museums.
Sechzehnuhrdreißig. Keine telefonische Verbindung mit Katharinas Wohnung,
keine mit Frau Woltersheim, keine beim Ehepaar Hiepertz.
Ungemütlich auch, daß das Fehlen von Katharinas ordnender Hand so rasch
und so deutlich spürbar wurde. Wie kommt es bloß, daß innerhalb einer halben
Stunde, obwohl man doch nur Kaffee aufgegossen, Knäckebrot, Butter und
Honig aus dem Schrank geholt und die paar Gepäckstücke in die Diele gestellt
hat, schon das Chaos ausgebrochen zu sein scheint, und schließlich wurde sogar
Trude gereizt, weil er sie immer wieder und immer wieder fragte, wo sie denn da
einen Zusammenhang sehe zwischen Katharinas Affäre und Alois Sträubleder
oder gar Lüding, und sie ihm so gar nicht entgegenkam, nur immer wieder
in ihrer gespielt naiv-ironischen Art, die er sonst mochte, an diesem Morgen
aber gar nicht schätzte, auf die beiden Ausgaben der ZEITUNG verwies, und
ob ihm da nicht ein Wort besonders aufgefallen sei, und als er fragte welches,
verweigerte sie die Auskunft mit dem sarkastischen Hinweis, sie wolle seinen
Scharfsinn auf die Probe stellen, und er las wieder und wieder »diesen Dreck,
diesen verfluchten Dreck, der einen über die ganze Welt hin verfolgt«, las es
immer wieder, unkonzentriert, weil der Ärger über seine verfälschte Äußerung
und die »rote Trude« immer wieder hochkam, bis er schließlich kapitulierte und
Trude demütig bat, ihm doch zu helfen; er sei so außer sich, daß sein Scharfsinn
versage, und außerdem sei er ja seit Jahren nur noch als Industrie –, kaum noch als
Kriminalanwalt tätig, woraufhin sie trocken sagte »Leider«, dann aber Erbarmen
zeigte und sagte »fällt dir denn das Wort Herrenbesuch nicht auf, und ist dir
nicht aufgefallen, daß ich das Wort
Weitere Kostenlose Bücher