Die verlorene Ehre der Katharina Blum
gehabt, zu tanzen. Daraufhin
habe Frau Dr. Blorna zu ihr gesagt: »Warte nur, Kathrinchen, wenn wir zurück
sind, geben wir mal wieder ’ne Party, dann kannst du auch wieder tanzen.«
Seitdem sie in der Stadt war, seit fünf oder sechs Jahren, hatte Katharina sich
immer wieder über die nicht vorhandenen Möglichkeiten, »mal einfach irgendwo
tanzen zu gehen«, beklagt. Da gab es, wie sie Blornas erzählte, diese Buden, in
denen eigentlich nur verklemmte Studenten eine kostenlose Nutte suchen, dann
gab es diese bohemeartigen Dinger, in denen es ihr ebenfalls zu wüst zuging, und
konfessionelle Tanzveranstaltungen verabscheute sie geradezu.
Am Mittwochnachmittag hatte Katharina, wie sich leicht ermitteln ließ, noch
zwei Stunden bei dem Ehepaar Hiepertz gearbeitet, wo sie gelegentlich und auf
Anfrage aushalf. Da die Hiepertz ebenfalls die Stadt während der Karnevalstage
verließen und zu ihrer Tochter nach Lemgo fuhren, hatte Katharina die beiden
alten Herrschaften noch in ihrem Volkswagen zum Bahnhof gebracht. Trotz
erheblicher Parkschwierigkeiten hatte sie darauf bestanden, sie auch noch auf
den Bahnsteig zu bringen und ihr Gepäck zu tragen. (»Nicht ums Geld, nein,
für solche Gefälligkeiten dürfen wir ihr gar nichts anbieten, das würde sie tief
kränken«, erläuterte Frau Hiepertz.) Der Zug war nachweislich um .o Uhr
gefahren. Wenn man Katharina fünf bis zehn Minuten zubilligen wollte, um
inmitten des beginnenden Karnevalsrummels ihren Wagen zu finden, weitere
zwanzig oder gar fünfundzwanzig Minuten, um ihre außerhalb der Stadt in einem
Wohnpark gelegene Wohnung zu erreichen, die sie also erst zwischen . und
. Uhr betreten haben konnte, so blieb keine Minute ungedeckt, wenn man
ihr gerechterweise zubilligen mochte, daß sie sich gewaschen, umgezogen,
eine Kleinigkeit gegessen hatte, denn sie war schon gegen . Uhr bei Frau
Woltersheim zur Party erschienen, nicht per Auto, sondern per Straßenbahn,
und sie war weder als Beduinenfrau noch als Andalusierin verkleidet, sondern
lediglich mit einer roten Nelke im Haar, in roten Strümpfen und Schuhen, in
einer hochgeschlossenen Bluse aus honigfarbener Honanseide und einem
gewöhnlichen Tweedrock von gleicher Farbe. Man mag es gleichgültig finden, ob
Katharina mit ihrem Auto oder mit der Straßenbahn zur Party fuhr, es muß hier
erwähnt werden, weil es im Laufe der Ermittlungen von erheblicher Bedeutung
war.
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Heinrich Böll
Die verlorene Ehre der Katharina Blum
9.
Von dem Augenblick an, da sie die Woltersheimsche Wohnung betrat, wurden
die Ermittlungen erleichtert, weil Katharina von . Uhr an, ohne es zu ahnen,
unter polizeilicher Beobachtung stand. Den ganzen Abend über, von . bis
. Uhr, bevor sie mit diesem die Wohnung verließ, hatte sie »ausschließlich
und innig«, wie sie selber später aussagte, mit einem gewissen Ludwig Götten
getanzt.
10.
Man sollte hier nicht vergessen, dem Staatsanwalt Peter Hach Dankbarkeit zu
zollen, denn ihm einzig und allein verdankt man die an justizinternen Klatsch
grenzende Mitteilung, daß Kriminalkommissar Erwin Beizmenne von dem
Augenblick an, da die Blum mit Götten die Wohnung der Woltersheim verließ,
die Telefone der Woltersheim und der Blum abhören ließ. Das geschah auf eine
Weise, die man vielleicht der Mitteilung für wert halten mag. Beizmenne rief in
solchen Fällen den dafür zuständigen Vorgesetzten an und sagte zu diesem: »Ich
brauche mal wieder meine Zäpfchen. Diesmal zwei.«
11.
Offenbar hat Götten von Katharinas Wohnung aus nicht telefoniert. Jedenfalls
wußte Hach nichts davon. Sicher ist, daß die Wohnung von Katharina streng
überwacht wurde, und als bis . Uhr am Donnerstagmorgen weder
telefoniert worden war, noch Götten die Wohnung verlassen hatte, drang man,
da Beizmenne die Geduld und auch die Nerven zu verlieren begann, mit acht
schwerbewaffneten Polizeibeamten in die Wohnung ein, stürmte sie regelrecht
unter strengsten Vorsichtsmaßregeln, durchsuchte sie, fand aber Götten nicht
mehr, lediglich die »äußerst entspannt, fast glücklich wirkende« Katharina, die
an ihrer Küchenanrichte stand, wo sie aus einem großen Becher Kaffee trank
und in eine mit Butter und Honig bestochene Scheibe Weißbrot biß. Sie machte
sich insofern verdächtig, als sie nicht überrascht, sondern gelassen, »wenn nicht
triumphierend« wirkte. Sie
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