Die verlorene Ehre der Katharina Blum
gelockerter Krawatte
nicht nur väterlich wirkte, sondern wirklich väterlich wurde, bestand die Blum
darauf, in ihre Zelle verbracht zu werden. Die beiden Polizeibeamten, die zu ihrer
Bewachung abkommandiert waren, bemühten sich nachweislich, ihr Kaffee und
Brote anzubieten, aber sie schüttelte hartnäckig den Kopf, saß auf ihrer Pritsche,
rauchte eine Zigarette und äußerte durch Naserümpfen und Ekel bezeugendes
Mienenspiel ihren Abscheu vor der noch mit Resten von Erbrochenem
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Heinrich Böll
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bekleckerten Toilette in der Zelle. Später gestattete sie Frau Pletzer, nachdem
diese und die beiden jungen Beamten ihr zugeredet hatten, ihr den Puls zu fühlen,
als der Puls sich als normal erwies, ließ sie sich dann auch herab, sich aus einem
nahe gelegenen Café ein Stück Sandkuchen und eine Tasse Tee holen zu lassen,
bestand aber darauf, das aus eigener Tasche zu bezahlen, obwohl einer der jungen
Beamten, der am Morgen ihre Badezimmertüre bewacht hatte, während sie sich
anzog, bereit war, ihr »einen auszugeben«. Das Urteil der beiden Polizeibeamten
und der Frau Pletzer über diese Episode mit Katharina Blum: humorlos.
17.
Zwischen . und . Uhr wurde die Vernehmung zur Person fortgesetzt, die
Beizmenne gern kürzer gehabt hätte, die Blum aber bestand auf Ausführlichkeit,
die ihr von den beiden Staatsanwälten zugestanden wurde, schließlich war
auch Beizmenne – erst widerwillig, später einsichtigerweise wegen des
gelieferten Hintergrundes, der ihm wichtig erschien – mit der Ausführlichkeit
einverstanden.
Gegen . erhob sich nun die Frage, ob man die Vernehmung fortsetzen oder
unterbrechen, ob man die Blum freilassen oder in eine Zelle verbringen solle. Sie
hatte sich gegen . Uhr tatsächlich herbeigelassen, noch ein Kännchen Tee
zu akzeptieren und ein belegtes Brötchen (Schinken) zu verzehren, und erklärte
sich damit einverstanden, die Vernehmung fortzusetzen, da ihr Beizmenne nach
Abschluß derselben Freilassung versprach. Es kam nun ihr Verhältnis zu Frau
Woltersheim zur Sprache. Sie sei, sagte Katharina Blum, ihre Patentante, habe
sich immer schon um sie gekümmert, sei eine entfernte Kusine ihrer Mutter; sie
habe, als sie in die Stadt zog, sofort Kontakt mit ihr aufgenommen.
»Am . . war ich zu diesem Hausball eingeladen, der eigentlich am . .,
an Weiberfastnacht, hatte stattfinden sollen, dann aber vorverlegt wurde, weil
Frau Woltersheim für Weiberfastnacht berufliche Verpflichtungen übernommen
hatte. Es war das erste Tanzvergnügen, an dem ich seit vier Jahren teilnahm. Ich
korrigiere meine Aussage dahingehend: verschiedentlich, vielleicht zwei-, drei-,
möglicherweise viermal habe ich bei Blornas mitgetanzt, wenn ich dort abends
bei Gesellschaften aushalf. Zu vorgerückter Stunde, wenn ich mit Aufräumen
und Abwaschen fertig war, wenn der Kaffee serviert war und Dr. Blorna die
Bar übernommen hatte, holte man mich in den Salon, und ich tanzte dort mit
Herrn Dr. Blorna und auch mit anderen Herren aus Akademiker-, Wirtschafts-
und Politikerkreisen. Später bin ich nur noch sehr ungern oder zögernd, dann
gar nicht mehr diesen Aufforderungen gefolgt, es kam, da die Herren oft
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angetrunken waren, auch dort zu Zudringlichkeiten. Genauer gesagt: seitdem
ich mein eigenes Auto besaß, habe ich diese Aufforderungen abgelehnt. Vorher
war ich davon abhängig, daß einer der Herren mich nach Hause brachte. Auch
mit diesem Herren dort« – – sie zeigte auf Hach, der tatsächlich errötete, »habe
ich gelegentlich getanzt.« Die Frage, ob auch Hach zudringlich geworden sei,
wurde nicht gestellt.
18.
Die Dauer der Vernehmungen ließ sich daraus erklären, daß Katharina Blum mit
erstaunlicher Pedanterie jede einzelne Formulierung kontrollierte, sich jeden
Satz, so wie er ins Protokoll aufgenommen wurde, vorlesen ließ. Z. B. die im
letzten Abschnitt erwähnten Zudringlichkeiten waren erst als Zärtlichkeiten ins
Protokoll eingegangen bzw. zunächst in der Fassung, »daß die Herren zärtlich
wurden«; wogegen sich Katharina Blum empörte und energisch wehrte. Es kam
zu regelrechten Definitionskontroversen zwischen ihr und den Staatsanwälten,
ihr und Beizmenne, weil Katharina behauptete, Zärtlichkeit sei eben eine
beiderseitige und Zudringlichkeit eine einseitige Handlung,
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