Die verlorene Ehre der Katharina Blum
Tatzusammenhänge nicht doch möglicherweise als bloße
Andeutungen verlorengehen oder mißverstanden werden, sollte man hier doch
noch einen Hinweis gestatten: Die ZEITUNG, die ja durch ihren Reporter Tötges
den zweifellos verfrühten Tod von Katharinas Mutter verursachte, stellte nun
in der SONNTAGSZEITUNG Katharina als am Tode ihrer Mutter schuldig
dar und bezichtigte sie außerdem — eben nur mehr oder weniger offen – des
Diebstahls an Sträubleders Schlüssel zu dessen Zweitvilla! Das sollte doch noch
einmal hervorgehoben werden, denn man kann da nie sicher sein. Auch nicht
ganz sicher, ob man alle Verleumdungen, Lügen, Verdrehungen der ZEITUNG
richtig kapiert.
Es sei hier am Beispiel Blorna dargestellt, wie die ZEITUNG sogar auf relativ
rationale Menschen wirken konnte. In dem Villenvorort, in dem Blornas wohnten,
wurde natürlich die SONNTAGSZEITUNG nicht verkauft. Dort las man
Edleres. So kam es, daß Blorna, der glaubte, es sei ja nun alles vorbei, und der nur
ein wenig bange auf Katharinas Gespräch mit Tötges wartete, erst am Mittag, als
er bei Frau Woltersheim anrief, von dem Artikel in der SONNTAGSZEITUNG
erfuhr. Die Woltersheim ihrerseits hatte es als selbstverständlich angesehen,
daß Blorna die SONNTAGSZEITUNG schon gelesen habe. Nun hat man doch
hoffentlich begriffen, daß Blorna ein zwar herzlicher, ehrlich um Katharina
besorgter, aber auch ein nüchterner Mensch war. Als er nun sich von Frau
Woltersheim die entsprechenden Passagen aus der SONNTAGSZEITUNG am
Telefon vorlesen ließ, traute er – wie man das so nennt – seinen Sinnen nicht (in
diesem Fall nur einem Sinn: dem Gehör) – er ließ sich das noch einmal vorlesen,
mußte es dann wohl glauben, und — so nennt man es wohl – es platzte ihm
regelrecht der Kragen. Er schrie, brüllte, suchte in der Küche nach einer leeren
Flasche, fand eine, rannte damit in die Garage, wo er zum Glück von seiner Frau
gestellt und daran gehindert wurde, einen regelrechten Molotow-Cocktail zu
basteln, den er in die Redaktion der ZEITUNG und später einen zweiten in
Sträubleders »Erstvilla« werfen wollte. Man muß sich das vor Augen führen: ein
akademisch gebildeter Mensch von zweiundvierzig Jahren, der seit sieben Jahren
Lüdings Achtung, Sträuble – der Respekt wegen seiner nüchternen und klaren
Verhandlungsführung hatte – und das international sowohl in Brasilien wie in
Saudi-Arabien wie in Nordirland – also es handelte sich keineswegs um einen
provinziellen, sondern um einen durch und durch weltläufigen Menschen, – der
wollte Molotow-Cocktails basteln!
Frau Blorna erklärte das kurzerhand als spontan kleinbürgerlich-romantischen
Anarchismus, besprach ihn regelrecht, so wie man eine kranke oder wunde
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Heinrich Böll
Die verlorene Ehre der Katharina Blum
Körperstelle bespricht , griff selbst zum Telefon, ließ sich von Frau Woltersheim
die entsprechenden Passagen vorlesen, und es muß hier gesagt werden: sie
wurde ziemlich blaß, sogar sie, und sie tat etwas, das vielleicht schlimmer war als
Molotow-Cocktails je sein können, sie griff zum Telefon, rief Lüding an (der um
diese Zeit gerade über seinen Erdbeeren mit Sahne und mit Vanilleeis saß) und
sagte einfach zu ihm: »Sie Schwein, Sie elendes Ferkel.« Sie nannte zwar ihren
Namen nicht, doch man kann voraussetzen, daß alle Bekannten von Blornas die
Stimme seiner Frau, die um ihrer treffenden und scharfen Bemerkungen willen
berüchtigt war, kannten. Das wiederum ging ihrem Mann zu weit, der glaubte,
sie habe mit Sträubleder telefoniert. Nun, es kam da noch zu verschiedenen
Krachen, selbst zwischen Blornas, zwischen Blornas und anderen, aber da dabei
niemand umgebracht wurde, soll man gestatten, daß darüber hinweggegangen
wird. Diese an sich unwichtigen, wenn auch beabsichtigten Folgen der
SONNTAGSZEITUNG werden hier nur erwähnt, damit man weiß, wie sogar
gebildete und etablierte Menschen empört waren und Gewalttaten gröbster Art
erwogen.
Erwiesen ist, daß Katharina um diese Zeit – so gegen zwölf Uhr –, nachdem
sie sich eineinhalb Stunden unerkannt dort aufgehalten und wahrscheinlich
Informationen über Tötges gesammelt hatte, das Journalistenlokal »Zur
Goldente« verlassen hatte und in ihrer Wohnung auf Tötges, der etwa eine
Viertelstunde später eintraf, wartete. Über das »Interview« braucht ja wohl
nichts mehr gesagt zu werden. Man weiß, wie das ausging.
50.
Um die überraschende –
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