Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
Tür leicht, und Claire wusste, dass sie beobachtet wurde. Es dauerte noch eine Weile, bis sich die Tür öffnete. Im Spiel zwischen Licht und Schatten kam Claire das Gesicht ihrer Mutter scharf gezeichnet wie eine Holzmaske vor.
»Was willst du hier?«, fragte Aurelia ohne das leiseste Gefühl in der Stimme.
Bubu … Zufällig war Ludwigs Blick auf die kleine Lumpenpuppe gefallen, und mit einem Mal konnte er die Tränen kaum zurückhalten. Als stünde sie vor ihm, sah er Claire vor sich, wie sie ihre Tochter im Arm hielt und ihr Gesicht dem des Babys näherte.
»Bubu«, sagte sie leise, »wo ist die Bubu?«
Er vermisste seine beiden Frauen, und wenn er vorher geglaubt hatte, er bräuchte keine Menschenseele, so war das Haus einsam geworden ohne sie.
Dass sich überall Spuren der beiden fanden, machte die Sache nicht einfacher. Trat er vor die Tür, fiel sein Blick sofort auf die Schaukel, auf der Claire so gerne gesessen hatte, die kleine Friederike auf dem Schoß. Auch in der guten Stube sah er sie stets mit dem Kind, Friederike stehend, im Arm wiegend, oder auf der Decke vor dem Kamin kauernd.
Er hatte unwirsch reagiert, als sie vor seiner Tür aufgetaucht war, und jetzt wollte er sie nicht mehr missen.
Wo hatte man die beiden hingebracht? Was war überhaupt geschehen? Im Dorf hatte man ihm von drei Männern erzählt, die sie geholt hatten. Je länger er darüber nachdachte, desto sicherer war er sich, dass er nach Frank furt reisen musste. Dass er die Dinge klären musste. Irgend wie.
Aber wie sollte er diese Reise nur wagen? Er hatte das Gut doch jahrelang nicht verlassen, und er hatte furchtbare Angst vor dem Leben dort draußen. Und wie sollte das, was er wusste, nur helfen können?
Und doch musste er ihr helfen. Er musste die Geschichte erzählen, soweit er sie zusammenbringen konnte. Er musste sich daran erinnern, was Tante Luisa ihm erzählt hatte, diese vornehme, weißhaarige Frau mit den milchig blinden Augen, die auch noch mit über achtzig so gerne und gut getanzt und gesungen hatte.
In seinem zehnten Lebensjahr war sie gestorben. Das war jetzt schon so lange her, dass er sich nicht mehr gut an ihre Geschichten erinnerte. Zu einem Geburtstag hatte sie ihm ein Bild geschenkt, eine Zeichnung, die zwei Män ner bei der Weinlese zeigte. Einmal, sie hatte im Sterben gelegen und war nicht mehr recht bei Bewusstsein ge wesen, hatte sie etwas von Briefen gemurmelt, die irgend wo im Haus versteckt waren.
Ludwig seufzte, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und presste die Handballen gegen die Augen. Wenn er nur die ganze Geschichte zusammenbrächte, von Anfang an.
Claire saß am Küchentisch, die Hände um die dampfende Teetasse gelegt, und schaute auf den steifen Rücken ihrer Mutter, die am Herd stand und so tat, als richte sich ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Teekessel. In der Wohnung wirkte es ungewöhnlich ruhig, die Küche erschien Claire etwas unordentlicher als früher. Der Haken, an dem gewöhnlich die Schürze des Hausmädchens hing, war leer.
»Wo ist Lina?«
»Ich musste sie entlassen.« Die Stimme ihrer Mutter klang eisig, dann drehte Aurelia sich zu ihrer Tochter hin. »Ich hatte kein Geld mehr, um sie zu bezahlen, nachdem du fortgelaufen warst, mein liebes Kind. Die Neubergers emp fangen mich nicht mehr, und Geld bekomme ich dem entsprechend auch keines mehr, wie du dir denken kannst.«
Claire fuhr von ihrem Sitz auf.
»Aber verstehst du nicht, Mama? Ich musste es tun. Ich musste gehen. Du konntest mir doch auch nicht helfen, als ich dich darum gebeten habe. Friederike ist Wilhelms Tochter, das schwöre ich, bei allem, was mir heilig ist.«
»Und glaubst du, du hast deine Lage jetzt verbessert?« Aurelia schüttelte den Kopf. »Meine Güte, du bist deinem Mann davongelaufen. Etwas Dümmeres hättest du nicht tun können. Wieso sollte ich dir ausgerechnet jetzt noch helfen?«
»Ich hatte meine Gründe.« Claire machte eine kurze Pause. »Ich habe sie immer noch. Ich muss übrigens heute Nacht hier schlafen.«
Aurelia nickte. »Du kennst ja dein altes Zimmer.«
Sie stand auf und war schon an der Tür, als sie sich noch einmal umdrehte: »Ich hoffe, du willst heute nicht mehr mit mir sprechen, denn das, mein liebes Kind, möchte ich gewiss nicht.«
S echstes Kapitel
»Täubchen, es tut mir so leid.« Claire sagte nichts. Johanne streckte die Hände nach ihr aus, ließ sie dann unschlüssig sinken. »Wann haben sie dich entlassen?«
»Gestern Morgen.« Für Claire hörte sich
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