Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
kein Umgang für eine Neu berger.
Später erinnerte er sich, dass er gerade zu sprechen anheben wollte, als draußen im Gang Schritte zu hören ge wesen waren. Nur einen Moment später war Mamas Mäd chen hereingekommen, hatte geknickst und darauf gewartet, angesprochen zu werden.
»Ja, Roswitha?«
»Sie haben mir gesagt, ich soll Bescheid sagen, wenn die junge Herrin zurückkehrt, gnädige Frau.«
Wilhelm bemerkte, wie seine Mutter bei den Worten »junge Herrin« zusammenzuckte. Sie hatte Claire in der Tat niemals als Teil der Familie verstanden, schon gar nicht als junge Herrin.
»Danke schön, Roswitha.«
Zu ihrer aller Überraschung war das Mädchen stehen geblieben und unruhig von einem Fuß auf den anderen getreten, als fürchte es eine Strafe. »Nein, das meinte ich nicht, gnädige Frau, also ich …«, stotterte sie.
Nora hob die Augenbrauen.
»Ja was ist denn, Roswitha?«
»Ich glaube«, das Mädchen zögerte, »ich glaube, die junge Herrin ist davongelaufen.«
»Wie bitte?« Constantin war von seinem Sitz aufgefahren. »Was veranlasst dich …?«
»Ich war eben in ihrem Zimmer, weil ich dachte, sie bleibt so lange weg, vielleicht ist sie ja schon wieder zurück, und ich habe es nur nicht gemerkt. Ja, also … äh … da sehe ich, dass das Kind nicht da ist, und es fehlen auch ein paar von ihren Sachen … Auch ihr kleiner Koffer, gnä…«
Nora stieß einen Schrei aus. Constantin ließ sich mit einem heiseren Keuchen zurück in den Sitz sinken. Wilhelm konnte nicht sagen, warum er sich in diesem Moment zu seiner Schwester umdrehte, und er konnte auch nicht wirklich lesen, was in deren Miene stand. Eins jedoch wusste er, ihr Ausdruck missfiel ihm.
D rittes Kapitel
Bonnheim, September 1931
»Ich sag’s dir ungeschönt und so, wie es ist. Wilhelm braucht Geld. Er hat sich verspekuliert.«
Johanne saß in einem roten Kostüm mit kürzerer Jacke und langem Rock in Claires kleiner Kammer auf der Fens terbank, trug eine rote, blumenverzierte Kappe auf dem etwas längeren Pagenkopf und hielt die Arme ver schränkt. Seit sie regelmäßig nach Berlin reiste, war sie noch dünner geworden, stellte Claire fest, und als sie vor kaum einer halben Stunde erstmals über Ludwigs schlammigen Hof zum Eingang gestakst war, hatte sie Claire unwillkürlich an die Flamingos im Zoo erinnert.
Aber sie war noch dieselbe ehrliche Haut geblieben, die Claire seit der Schulzeit kannte, und Claire war nach gut vier Wochen froh darum, ein freundliches, bekanntes Gesicht zu sehen.
»Ist dir auch wirklich niemand gefolgt?«, hatte sie die Freundin trotzdem als Erstes gefragt, nachdem sie einander begrüßt hatten.
»Nein, ich habe aufgepasst.«
Danach hatte Johanne sofort gedrängt, nach oben zu gehen. Und hier saßen sie nun.
Claire musste heftig schlucken.
»Nun«, sagte sie, »ich glaube, das muss ich erst einmal verarbeiten. Er hat mir zwar schon in der Hochzeitsnacht gesagt, dass er Schulden hat, aber ich dachte, er hätte die Sache inzwischen im Griff.«
Sie drückte eine Hand gegen ihre pochende Stirn und atmete dann tief durch. Immerhin, dachte sie, vor Kurzem wärst du noch in Tränen ausgebrochen.
»Ich denke, sie werden nun die Scheidung von dir for cieren wollen, um auf ein einträglicheres Pferd zu setzen«, sagte Johanne in die Stille hinein, »das war jedenfalls das Letzte, was ich gehört habe.«
Claire nickte. »Gut möglich.« Sie stand auf. »Ich muss nachdenken. Soll ich dir unterdessen den Hof zeigen, ja?«
Gemeinsam gingen sie die steile Treppe nach unten. Während Claires Gedanken durcheinanderwirbelten, gelang es ihr doch, der Freundin die Hofanlage zu zeigen und zu erzählen, was sie über deren Geschichte wusste. Das ursprüngliche Gebäude stammte aus dem späteren 18. Jahrhundert, aus dieser Zeit geblieben war auch die Scheune, in der Onkel Ludwig seinen größten Schatz, einen Deutz F1M 414, aufbewahrte. Zum Besitz gehörte außerdem ein völlig verfallenes, kleineres Gartenhaus, des sen Steine teilweise erneut verbaut worden waren, und einige Wingerte. Auch dort war Claire auf Spaziergängen schon auf Grundmauern gestoßen, doch hatte sich nicht mehr erkennen lassen, welcher Art das Gebäude ge wesen war.
»Onkel Ludwig sagt, dass es ein Weinberghäuschen ge wesen sei muss, ein Unterstand für die Arbeiter«, erklärte sie Johanne und fragte sich dabei, was die Großstadtpflanze wohl angesichts ihres Lebens hier dachte.
Danach saßen sie gemeinsam in der Küche. Claire nahm Geschirr
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