Die verlorene Geschichte: Roman (German Edition)
die eigene Stimme wie Glas kurz vor dem Zerspringen an. Nach einer beinahe schlaflosen Nacht in ihrem alten Kinderzimmer war sie früh aufgestanden und hatte die Wohnung ihrer Mutter verlassen, um vor dem Haus der Neubergers darauf zu warten, dass Johanne endlich herauskam. Sie hatte zwar immer noch einen Schlüssel, schließlich wohnte sie offiziell ja selbst in der Villa, aber sie hatte sich bisher nicht dazu durchringen können, ihn zu benutzen. Die Kraft, die sie gestern plötzlich verspürt hatte, war ver schwunden. Jetzt konnte sie nur an die schrecklichen Tage im Gefängnis denken, an den Besuch des Arztes, der sie auf ihren Gemütszustand hatte untersuchen sollen und der sich mit ernster Miene Notizen in ein Buch gemacht hatte.
Dr. Sartorius … Claire hatte immer noch keine Ahnung, wie sie dem Ganzen vorerst entkommen war. Sie fühlte sich wie erstarrt. Tränen hatte sie jedenfalls keine mehr. Jetzt saßen Johanne und sie im Café Bräutigam in der Nähe der Liebfrauenkirche. Es herrschte guter Betrieb. Niemand achtete auf sie.
»Wie geht es meiner Kleinen?«, flüsterte Claire.
»Derzeit kümmert sich meine Mutter um sie. So weit geht es ihr gut.«
Claire hob den Kopf. »Weint sie?«
Johanne schaute sie mitleidig an. »Willst du wissen, ob sie dich vermisst? Natürlich vermisst sie dich.« Claire spürte, wie ihr die Freundin einen Arm um die Schultern legte. »Und ich bin ja auch da, ich kümmere mich auch um sie. Ich liebe sie, und sie kennt mich, das weißt du.«
Claire schluckte heftig und machte sich dann von ihrer Freundin los. »Ich möchte«, sie schluckte nochmals, »ich möchte sie sehen.«
»Claire!« Johanne schaute sie mitleidig an.
Claire sank in sich zusammen.
»Ich weiß. Ich weiß, es geht nicht, aber könntest du … Ich meine, könntest du ein Treffen arrangieren? Mit ihr spazieren gehen, oder so etwas?«
»Claire, ich weiß nicht …«
»Bitte, Johanne, bitte!«
Es war nun über eine Woche her, dass Claire ihre Tochter zuletzt gesehen hatte. Heute hatte sie sich mit Johanne auf dem Anlagenring verabredet. Eben schob eines der Dienstmädchen der Neubergers den Kinderwagen mit Friederike ganz dicht an Claire vorbei, als Johanne neben dem Wagen auftauchte und das Mädchen mit einem Auftrag davonschickte. Kaum war sie verschwunden, schaute sie sich suchend um.
»Claire, bist du da? Beeil dich, wir haben nicht viel Zeit.«
Die Gerufene trat sofort aus ihrem Versteck hervor. Während Claire ihre Tochter an sich drückte, schaute sie Johanne an.
»Was hat das alles zu bedeuten, Johanne? Ich habe so lange darüber nachgedacht, aber ich habe nichts Falsches getan. Ich spreche die Wahrheit. Was wollen sie von mir? Sag mir bitte, was sie von mir wollen.«
Für einen Moment sah Johanne zu Boden, dann blickte sie der Freundin in die Augen.
»Wilhelm will sich von dir scheiden lassen, aber er will auch dein Geld. Er behauptet, du seist ihm untreu gewesen.«
»Aber das stimmt nicht. Das stimmt einfach nicht. Und als meinem Ehemann gehört ihm das Geld doch ohnehin schon.«
»Ich weiß nicht, ob ihnen das genügt.«
Claire drückte das Kind enger an sich und sog den Baby geruch ein.
»Mir liegt nichts daran, sollen sie es nehmen«, fuhr sie fort, als habe sie nicht gehört. »Ich will nur meine Toch ter. Meinst du, ein Kind kann bei seiner geschiedenen Mut ter bleiben?«
Johanne hob die Schultern und sah sie ernst an.
S iebtes Kapitel
»Claire …« Sie hatte sich keine Gedanken darum gemacht, wie er reagieren würde, wenn sie sich erstmals wieder gegenüberstanden. Ebenso wenig, wie sie darüber nach gedacht hatte, was sie dann tun würde. Nur kurz stand ein ungewohnter Ausdruck von Unsicherheit auf Wilhelms Gesicht, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle.
»Eigentlich war ich gerade auf dem Weg nach draußen. Wenn du etwas von mir willst, Claire, dann mach es kurz, bitte.«
» Eigentlich wollte ich deine Schwester sehen. Wir haben uns ja gewiss nichts mehr zu sagen.« Claire war erstaunt und sogar etwas überrascht, wie fest ihre Stimme klang. Etwas hatte sich verändert in den letzten Tagen. Sie straffte die Schultern. »Ist sie da?«
Wilhelm lächelte künstlich. »Aber das weißt du doch längst, oder, meine Liebe? Wer hat dich überhaupt herein gelassen?«
Er hatte sich so in den Eingang gestellt, dass sie nicht an ihm vorbeischauen konnte. Claire sah ihn ungerührt an.
»Ich habe einen Schlüssel. Ich bin immer noch deine Frau, Wilhelm, ich wohne hier.«
Wieder
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